Tolstoi, Lew Nokolajewitsch (1828 - 1910)

Die beiden Schriftsteller sind sich nicht ein einziges Mal persönlich begegnet. Und doch verbindet sie sehr viel - im Wesentlichen ihre Gegensätzlichkeit. Sie ergänzen sich wie zwei zusammengehörige Puzzle-Teile, die dennoch zugleich doch grundverschieden sind. 
Um dieser Behauptung Rechnung zu tragen, finden Sie auf dieser Seite diverse Zitate, die eine Beschreibung von einer Beziehung abgeben, die es nie gab.
 
Dostojewski im März 1870 in einem Brief an Strachow:
„Die zwei Zeilen über Tolstoj, mit denen ich in keiner Weise einverstanden bin, sind die Stellen, wo Sie behaupten, dass Tolstoj in allem Großen in unserer Literatur ebenbürtig sei. So etwas darf man doch nicht sagen!“
Briefe; Piper S. 344
 
Tolstoi über Dostojewski:
"Er war argwöhnisch, ehrgeizig, schwer und unglücklich. Seltsam, dass er so viel gelesen wird! Ich verstehe nicht weshalb."
G. Steiner; Tolstoj oder Dostojewskij
 
"Wenn das Leben Tolstois dem jungfräulich reinen Wassers einer unterirdischen Quelle gleicht, so ähnelt das Leben Dostojewskis dem Feuer, das aus den selben Untiefen hervorbricht, aber mit Lava, Asche, erstickendem Rauche und Qualm vermengt ist."
Mereschkowski; Tolstoi und Dostojewski

        (c) Riccardo Maniscalchi

"Allzu häufig hat man Tolstojs und Dostojewskis Exkursionen in die politische Theorie, in die Theologie  und die Untersuchung der Geschichte als Exentrizitäten des Genies oder als Beispiele jener merkwürdigen Blindheit abgetan, denen große Geister ausgesetzt sind. Wo diese Exkursionen auf ernsthaftes Interesse stießen, unterschied man zwischen dem Philosophen und dem Romancier. Doch in jeder reifen Kunst sind Kunst und Metaphysik Aspekte der Einheit."
G. Steiner; Tolstoj oder Dostojewskij
 
"Während sich Tolstoj gezeitenhaft und allmählich bewegt, dreht Dostojewski die Zeit zur Enge und Verzerrtheit zusammen."
Ebenda
 
"Krieg und Frieden, Anna Karenina sind wirkliche Romane, echte epische Schöpfungen. Hier liegt der künstlerische Schwerpunkt nicht im Dialoge der handelnden Personen, sondern in der Erzählung – nicht in dem,  was sie reden, sondern in dem, was über sie geredet wird, nicht in dem, was wir hören, sondern in dem, was wir sehen.
Bei Dostojewski ist es gerade umgekehrt; der erzählerische Teil steht in zweiter Linie, dient nur zum architektonischen Aufbau des ganzen Werkes. Die Erzählung ist immer in ein und derselben eiligen, zuweilen ganz flüchtigen Sprache geschrieben. (. . .) Die Erzählung ist nicht der Text, sie ist der Aufbau der Szene, der notwendigen Theaterdekoration. Erst wenn die handelnden Personen sprechen, fängt das Drama an. Im Dialoge konzentriert Dostojewski seine ganze künstlerische Darstellungskraft;  im Dialoge knüpft und löst sich alles bei ihm."
Mereschkowski; Tolstoi und Dostojewski
 
"Ich sage entgegengesetzt, nicht aber fernstehend oder fremd, denn sie berühren sich oft, stimmen sogar überein, nach dem Gesetz der sich berührenden Gegensätze. Die Gesundheit Tolstojs und die Krankheit Dostojewskijs tragen ähnliche Stempel schöpferischer Kraft."
Ebenda
 
"Aber sie schrieben in der gleichen Sprache und im gleichen entscheidenden geschichtlichen Augenblick. Einige Male waren sie nahe daran, sich zu begegnen; jedes Mal zogen sie sich wegen einer hartnäckig warnenden Vorahnung zurück."
G. Steiner; Tolstoj oder Dostojewskij
 

"Doch es gab bei Tolstoj und Dostojewski weite Bereiche der Ähnlichkeit und Punkte der Verwandtschaft, die den Antagonismus ihrer Charaktere nur umso grundsätzlicher machen."
Ebenda
 
"Tolstoi riss alle Türen seines gewöhnlichen Lebens auf, jeder Neugier Zutritt, jeder Frage Rechenschaft zu geben. Dostojewski, verriet seine Absicht nie anders als im vollendeten Werk. Schweigsam und scheu war er ein Leben lang, kaum das Äußerliche, das Körperliche seiner Existenz ist zwingend bezeugt."
S. Zweig; Drei Meister
 
"Homer und Tolstoj umgeben ihre Personen mit einer `Totalität der Gegenstände`. mit täglichen Arbeiten und den sie einhüllenden Normen des gewöhnlichen Lebens. Dostojewski reduziert sie auf das bloße Absolute; denn im Drama tritt das Nackste dem Nackten gegenüber."
G. Steiner; Tolstoj oder Dostojewskij

 
"Tolstoi erzählt in seinem Aufsatze über die Volkszählung, dass er im Ljapinschen Nachtasyle nach bedürftigen Leuten gesucht hätte, die einer Geldunterstützung würdig wären und an die er den Rest der ihm von reichen Wohltätern eingehändigten Gelder - 37 Rubel – verteilen könnte, aber trotz allen Suchens keinen gefunden hätte.
Mit Bestimmtheit kann man sagen, daß es Dostojewski nicht schwer gefallen wäre.   (. . .)
Dostojewski brauchte sich nicht den Beweis zu erbringen, daß Geld etwas Böses sei, daß man dem Besitze entsagen müsse. Das Geld liebte er oder aber er bildete es sich ein, es zu lieben. Aber es liebte ihn nicht. Tolstoj hasst es oder glaubt, daß er es hasst, aber es liebt ihn und es kommt selbst zu ihm.
Der eine träumte sein ganzes Leben lang vom Reichtum, lebte wie ein Bettler und wäre ohne seine Frau wohl auch so gestorben; der andere, der sein ganzes Leben an Armut dachte, hat allein sein Vermögen allein nicht verteilt, sondern es noch vermehrt."
Mereschkowski; Tolstoi und Dostojewski
 
"Bachtin hat Tolstoj dadurch von Dostoevskij unterschieden, dass in Tolstojs Werken immer eine Metaperspektive, eine ideologische Position des Autors zu erkennen sei."
Deutschmann, Peter; Epochen synoptisch: Von der Romantik zur Moderne
 
"Die zentralen Mythologien in den Werken und im persönlichen Leben Tolstojs und Dostojewskijs waren religiöse. Ihr ganzes Leben rangen die beiden mit dem Engel und forderten von ihm einen klaren einheitlichen Mythos von Gott und einen nachprüfbaren Bericht von Gottes Rolle in des Menschens Schicksal. Die Antworten, die sie bei ihrem leidenschaftlichen Suchen erhielten sind, wenn ich sie recht verstehe, miteinander unvereinbar."
G. Steiner; Tolstoj oder Dostojewskij
 
"Unter den menschlichen Seelen, lassen sich zwei Modelle, zwei Typen unterscheiden, deren eine zum Geiste Tolstoijs und deren andere zu dem Dostojewskis neigt."
Berdjajew; Die Weltanschauung Dostojewskis
 
"Dostojewski hat nie eine Norm gesucht, sondern immer nur die Fülle. Neben ihm steht Tolstoi inmitten seiner Werkes beunruhigt auf, hält inne, läßt die Kunst und quält sich ein Leben lang, was gut sei, was böse, ob er richtig lebe oder falsch. Tolstois Leben ist deswegen didaktisch, ein Lehrbuch, ein Pamphlet, das Dostojewskis ein Kunstwerk, eine Tragödie, ein Schicksal. Er handelt nicht zweckmäßig, nicht bewußt, er prüft sich nicht, er verstärkt sich nur.
Tolstoi klagt sich aller Todsünden an, laut und vor allem Volke. Dostojewski schweigt, aber sein Schweigen sagt mehr von Sodom, als alle Anklagen Tolstois."
S. Zweig; Drei Meister
 
"Selbstverständlich sind beide volkstümlich in dem Sinne, dass sie den Geist des russischen Volkes im Geiste der russischen Kultur weiter fortbilden, dass sie nach dem streben, was einmal wirklich volkstümlich werden und zugleich der allgemeinen Weltkultur angehören soll."
Mereschkowski; Tolstoi und Dostojewski
 
"Die Menschen Dostojewskijs sind keine typischen Verallgemeinerungen wie die Menschen Tolstoijs, sondern einmalige Inkarnationen von philosophischen Ideen."
Stepun Fedor; Tolstoij und Dostojewskij

 
"Eine Reihe von Kritikern haben nachgewiesen, daß die Unterschiede zwischen der Kunst Tolstoijs und Dostojewskijs - Unterschiede sowohl in der Technik, als auch im Weltbild - letztlich auf den zeitlosen Gegensatz zwischen Stadt und Land zurückgeführt werden können."
Steiner, George; Tolstoij oder Dostojewskij - Analyse des abendländischen Romans,  Albert Langen-Georg Müller Verlag 1964  S. 197
 

„Dostojewskij und Tolstoij wollen ihre Leser belehren und das dogmatisch. Mit ihren Werken erschaffen sie jeweils einen Denkraum, in dem sie Recht haben.“
Gerigk; Turgenjew – Eine Einführung für den Leser von  heute S. 19