Anna Grigorjewna Snitkina 1846 - 1918


Anna Snitkina rettet Dostojewskij vor sich selbst.


Die um 25 Jahre jüngere Anna Grigorjewna Snitkina war in einer kultivierten Beamtenfamilie groß geworden, hatte am deutschsprachigen St. Anna-Gymnasium (was ihr in Deutschland sehr nützlich sein sollte) dem ersten Mädchengymnasium in St. Petersburg gelernt, um dann pädagogische Kurse zu besuchen. Aber sie musste, um ihren todkranken Vater zu pflegen, diese Ausbildung abbrechen.Sie belegte dann kostenlose Stenographiekurse in St. Petersburg, hatte im Sommer 1866 zu Übungszwecken eine dreimonatige Privatkorrespondenz in Stenographie bei ihrem Lehrer und konnte Dostojewski als erstklassige Kraft empfohlen werden.

Unmittelbar vor ihrem ersten Diktat bei Dostojewski:
„Dostojewski war der Lieblingsdichter ihres Vaters gewesen. Sie selbst kannte die `Erniedrigten und Beleidigten`, hatte über den ´Memoiren aus einem Totenhaus` bittere Tränen vergossen und eben erst die bis dahin erschienen Teile des `Raskolnikov` gelesen. Von Dostojewskis persönlicher Erscheinung jedoch hatte sie keinerlei Vorstellung.“
Doderer, Otto, Die Unnachgiebigen, Verlag Butzon & Berker 1950

   Anna Grigorjewna Dostojewskaja

„Drei Tage nachdem nach Ablieferung des Manuskriptes Der Spieler machte er einen Besuch bei ihrer Mutter. Am Sonntag danach erschien er abermals in ihrem Hause: Eine Woche später verlobten sie sich: der fünfundvierzigjährige Dichter und die eben zwanzigjährige Anna Grigorjewna. Ein viertel Jahr später, am 15.02.1867, war die Hochzeit.“
Ebenda

„Sie verstand es ihn zu schonen und zu schützen und auch vor übereilten Entschlüssen zurückzuhalten.“
Ebenda

„Es war keine leidenschaftliche Zuneigung, die Anna Grigorjewna dem so viel älteren und kranken Mann das Jawort geben ließ, es war vor allem Mitleid mit ihm gewesen.“
Ebenda

Am 5. Mai 1867 in einem Brief an seine fast Ex-Geliebte A. Suslowa:
„Da mir das Leben seit dem Tod meines Bruders langweilig und schwer geworden war, machte ich ihr einen Heiratsantrag. Sie war einverstanden und jetzt sind wir verheiratet.“ Gesammelte Briefe 1833 – 1881; Piper Verlag


  Die Heirat fand in der Dreifaltigkeit-Kirche statt. © wikimedia

Sie war vermutlich zeitlebens in Angst vor der Wirkung Apollinaria Prokofjewnas auf Dostojewski. Folgende zwei Passagen aus ihren Tagebüchern belegen dies geradezu exemplarisch.

9. Mai 1867
„ . . . und kehrte nach Hause zurück, um einen Brief zu lesen, den ich in Fedjas Tasche gefunden hatte. (Anm. d. V.: ein Brief von Suslowa) Als ich den Brief gelesen hatte, war ich so aufgeregt, dass ich nicht mehr ein noch aus wusste. Mir wurde kalt, mich zitterte und weinte sogar. Ich fürchtete, die alte Neigung würde sich wieder regen und seine Liebe zu mir vergehen. Herrgott, schicke mir nicht ein solches Unglück! Ich war furchtbar verzweifelt. Wenn ich nur daran denke, wird mir noch weh ums Herz. Herrgott, nur das nicht! Das wäre zu schwer für mich, wenn ich seine Liebe verlöre.“  Dostojewskaja, A. G.; Dostojewski, 1985 S. 49

16. Mai 1867
„. . . Postamt. Ich ahnte, dass ein Brief von ihr da sein würde und war sehr froh, dass das ohne Fedja geschah, so dass ich ihn lesen konnte. Ich bezahlte 6 Silbergroschen und 6 Pfennig dafür, erkannte auch gleich ihre Schrift und ging nach Hause ohne besondere Regung zu zeigen. Im Innern war ich sehr aufgeregt, holte ein Messer heraus und entsiegelte den Brief. Es war ein sehr dummer und plumper Brief, der keinen besonderen Verstand in dieser Person zeigte.“ Ebenda S. 41

So erklärt sich vermutlich auch der folgende Brief von Dostojewski. Seine Gattin hatte die Briefe Suslowas an ihren Mann abgefangen und vernichtet.
Ob Snitkina zudem Dostojewskis Briefe an Suslowa ebenfalls abgefangen, gelesen und vernichtet hat, ist nicht bekannt. Zumindest abwegig erscheint eine solche Mutmaßung nicht.

24. August 1865
„Dieser Brief wird mein letzter sein, bis ich von Dir wenigstens irgendeine Nachricht erhalten habe. Mir kommt es immer so vor, als blieben die Briefe im Hotel Fleurus liegen oder gingen verloren, wenn Du selbst nicht da bist.
(. . .)
Lebe wohl meine Liebe. Wenn nicht ganz besondere Ereignisse eintreten, dann werde ich nicht mehr schreiben. Auf Wiedersehen. Ganz Dein Dos.“
Gesammelte Briefe 1833 – 1881; F. M. Dostojewski, Piper Verlag 1966

Diese faktische „Informationssperre“ wirft ein bedenkliches Licht auf Snitkinas Altruismus. Es scheint ausgesprochen bedauerlich, dass die Korrespondenz von zwei so außergewöhnlichen Menschen durch Einfalt und Eigensinn zu einem „gewaltsamen“ Ende gebracht wurde.

"Im Jahre 1898 gibt Dostojewskaja gegenüber der ersten deutschen Biographin Dostojewskis, N. Hoffmann, an, inzwischen jährlich rund 75.000 Rubel Reingewinn aus selbstverlegten Auflagen zu beziehen."
N. Hoffmann, Dostojewsky S. 408

Verbunden mit einer jährlichen Pension durch den Zaren von jährlich 2.000 Rubel, kann sie sich über viele Jahre ein Leben in Wohlstand leisten.

„Im Oktober 1917 findet dieser Segen ein jähes Ende. Das Haus, das Anna Grogor`evna auf der Krim erworben hat, wird von den Bolschewiki enteignet. Für ein Stück Brot, muss sie, wie ein halbes Jahrhundert zuvor, ihren Schmuck versetzen.“
Guski, Andreas; "Geld ist geprägte Freiheit". Paradoxien des Geldes bei Dostoevskij (I). In: Dostoevsky Studies (2012) S. 52

Sie verstarb nach einer schweren Malaria in Jalta und wurde auf der Krim beerdigt. Ihr testamentarischer Wunsch, auf dem Alexander-Newski-Friedhof in Petersburg an der Seite ihres Mannes beigesetzt zu werden, konnte erst 1968, dank der Bemühungen ihres Enkels Andrej Fjodorowitsch verwirklicht werden.