Poem von 1854




"Auf die europäischen Ereignisse im Jahre 1854"

 
 
„Unter dem `Gedicht` ist eine Art Hymnus gemeint, welchen der Dichter in seiner Begeisterung für die Sache der Christen im Orient zu Beginn des Orientkrieges 1854 verfasst hatte und welcher in den Archiven der `Dritten Abteilung` aufbewahrt worden war. (. . .)  Die Hoffnung auf die Erfolge der russischen Waffen lässt den Dichter in einer Art gläubiger Verzückung, das siegreiche Heer bis vor die Thore Konstantinopels führen.“
N. Hoffmann; Th. M. Dostojewsky  S. 149
 
"Das Gedicht (zehnteilige Strophen in fünffüßigen Jamben) erschien zum ersten Male im ersten Heft des Graschdanin 1883 im Druck."
Ebenda S. 444
 
„Im Mai 1854 verfasst Dostojewski das Gedicht "Auf die europäischen Ereignisse im Jahre 1854", mit dem er auf den Eintritt Englands und Frankreichs in den Russisch-Türkischen Krieg auf der Seite des Osmanischen Reiches reagierte und für die Verteidigung der von der Türkei drangsalierten Christen auf dem Balkan durch das Zarenreich eintrat. Obwohl das Gedicht nicht gedruckt wurde – es erschien erst nach dem Tode des Autors im Jahre 1883 – verfehlte es bei den Regierungsstellen seine Wirkung nicht ganz.“
Dostojewski, Onkelchens Traum, Aufbau Verlag 1989   S. 464
 
Dieser Text „ . . . kann nicht eigentlich als Gedicht gelten, denn es gibt Rhetorik, nicht Gestaltung.“
Nötzel S. 320
 
"Von seinen hartnäckigen Versuchen, wieder zur Literatur zurückzukehren, zeugt eine nationalistische Ode, die er ein paar Monate nach seiner Ankunft in Semipalatinsk schrieb. Doch obgleich die Ode vor patriotischem Zorn über die Kriegserklärung der Westmächte schäumt und den Gedanken einer Renaissance des Oströmischen Reiches unter russischer Oberhoheit huldigt, gelangte sie nie über die geräumigen Archive der Dritten Abteilung."
Kjetsaa; Dostojewski   Sträfling - Spieler - Dichterfürst S. 148
 
Dostojewski ließ das Gedicht über seinen Bataillons-Kommandeur versenden und bat darin, es in  den „Petersburger Gazetten" ("С.-Петербургских ведомостях") zu veröffentlichen. Die III. Abteilung, also die russische Geheimpolizei, verweigerte dazu jedoch ihr Einverständnis.
 
  
 
 
Auf die europäischen Ereignisse im Jahre 1854
 
Warum erstickt ihr die Welt im Blut?
Wer hat die Schuld, wer zog zuerst vom Leder?
Ihr seid ein kluges Volk – das weiß ein jeder,
doch euer Leumund ist nicht allzu gut!
Ach, wenn ihr doch wolltet zu Hause weilen
und euch kümmern um das eigene Feld –
es gibt genug Platz für alle auf dieser Welt,
wir haben wahrlich nichts mit euch zu teilen!
Und dann – es macht nur komischen Effekt,
wenn ihr den Russen mit dem Franzmann schreckt.
 
Gar manche Not hat Russland erlitten,
und manches Unglück, das euch unbekannt, -
Tataren haben es bedrückt, berannt,
und lagen später unter seinen Tritten.
Doch Russland ist gewachsen seit der Zeit
und ist zu einem Riesen groß geworden,
gar viele Meere es ringsum umborden,
mit ihm zu streiten ist Vermessenheit.
Versucht, uns anzuschauen, doch bedenkt,
dass ihr euch dabei leicht den Kopf verrenkt.
 
Gar manchen Bruderzwist hat es durchtobt,
und Ströme Blutes hat es schon vergossen
im Kampfe gegen die eigenen Blutgenossen, -
doch Russlands heil`ges Blut ist zäh erprobt.
Ihr seid ja klüger – jeder wird es sagen;
Ihr bürgt auch selbst, dass ihr gerechter seid;
Doch wisst: wir sind noch mehr, wir können tragen
im letzten Kampf das letzte Leid.
Wir trugen schon den schwersten Dornenkranz,
uns schrecket nicht die neue Allianz!
 
In Ruhe harren wir auch dieses Krieges;
Uns schützt Glaube, Thron, Kreuz und Altar
Als unsres Herzens Satzung immerdar,
als ein Symbol der Rettung und des Sieges!
Wir haben unsren Glauben nie verloren
(Wie ein gewisses Volk im Abendland!).
Das Slawenvolk vom Tode auferstand
stets durch den Glauben, den es sich erkoren.
Es ruht in Gotteshand, - wir glauben dran,
dass Russland lebt und niemals sterben kann.
 
Ihr sagt, wir hätten nur nach Raub getrachtet,
und Frankreichs Ehre hätten wir verletzt,
die Fahne eurer Allianz missachtet
und uns den Anstandsregeln widersetzt,
euch dauere die goldgehörnte Pforte,
wir hätten alle Zwietracht aufgerührt –
Die Antwort auf die Dummenjungenworte
war streng, wie sie dummen Jungen gebührt.
Sie passt euch nicht, ihr schäumet vor voller Wut –
Wir aber ziehen vor euch nicht den Hut.
 
Was wisset ihr von Russlands Weltgeschicken?
Niemals wird euch seine Bestimmung klar.
Sein ist der Osten! Millionen blicken
von dort mit Sehnsucht nach dem Doppelaar!
Es herrscht über Asiens weite Strecken,
bringt frisches Leben in die Wüstenei`n,
und wird zum neuen Leben auferwecken
den Orient! So will es Gott allein.
Der Zaren Herrschaft über Asien loht,
als einer lichten Zukunft Morgenrot.
 
Durch Opium, das viele tausend Leben
vernichtet hat (wir nennen`s Barbarei!)
Wollt die Bedrückten ihr zu euch erheben
aus ihrer Armut tiefer Sklaverei?
Britannien, das Missionen stiftet,
und Christentum verbreitet durch die Welt,
hat ein halbwahnsinniges Volk vergiftet
in frecher Gier nach Herrschaft und nach Geld.
Ward Christus nicht für euch herabgesandt,
am Kreuz zu sterben durch des Henkers Hand?
 
Schaut her: Er ist auch jetzt ans Kreuz geschlagen,
und wieder blutet Gottes einz`ger Sohn!
Doch wo ist Judas, der in diesen Tagen
Aufs neue ihn verkauft für schnöden Lohn?
Vom Speer durchbohrt ist seine heil`g elende,
aus seinen Augen Trän` auf Träne fällt,
weit ausgestreckt sind Gotteshände,
die Erde bebt und finster ist die Welt.
Der Glaubensbrüder Blut schreit himmelwärts,
und die bedrängte Kirche stöhnt vor Schmerz.
 
Es ließ sie selbst als seinen Leib verkünden,
er ist der rechten Kirche Autokrat.
Sich gegen sie mit Heiden zu verbünden,
ist eine finst`re frevelvolle Tat!
Ein Christ für Türken gegen Christum streitet!
Ein Christ die Sache Mohameds verficht!
Schmach über den, der sich von Christo scheidet
Und löscht aus des Himmels wahres Licht!
Gott steht uns bei. Wir haben Gott im Sinn!
Wer gibt sein Leben nicht für Christus hin?
 
Hier Herr und Gideon! Dein Schwert lass walten,
um zu erretten der Bedrückten Land, -
Es ist der Zar, den du uns, Herr, erhalten,
den du gesalbt mit deiner rechten Hand.
Wo wen`ge sich in deinem Namen scharen,
bist du dabei – das Wort hast du geprägt.
Millionen warten auf das Wort des Zaren,
und deine Stunde, Gott der Rache, schlägt.
Trompetenschall! In Herrlichkeit und Glanz
Schwebt Russlands Doppeladler gen Byzanz.
 
Quelle:
Gerhardt, Dietrich; Dostoevskijs Gedichte und die Literatur (S. 205 – 247)
In: Schriften des Komitees der BRD zur Förderung der Slawischen Studien
Band 7, Dostoevskij und die Literatur – Vorträge zum 100. Todesjahr des Dichters auf der 3. Internationalen Tagung des „Slawenkomitees“ in München 12. – 14. Oktober 1981
Rothe, Hans (Hrsg.)
Böhlau Verlag Köln Wien
 
 
Zudem in Deutsch erschienen:
Das politische Gedicht -   Auf die europäischen Ereignisse von 1854.
(mit einem Anhang aus dem "Tagebuch eines Schriftstellers“)
41 Seiten, übersetzt von A. Eliasberg, Verlag Drei Masken München 1920

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