und Europa

"In Europa sind wir nur Landstreicher."
So nennt Dostojewski einen 1877 im Tagebuch eines Schriftstellers erschienen Text.
 
 
"Dostojewski hat manch negatives Urteil über die Völker Europas gefällt, aber die nachteiligsten über sein eigenes."
Maurina; Dostojewskij; Menschengestalter und Gottsucher  S. 355
 
„Geboren aus Dostojewskijs eigener Lebenssituation, wird `Ausland` zu einem negativen Leitbegriff der allegorischen Landschaft seines poetischen Universums.“
Gerigk, Hans-Jürgen; Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller S. 289
 
Genf, 28. August 1867 - Dostojewski in einem Brief an A. Majkow:
„Warum bin ich in Dresden, gerade in Dresden, und nicht irgendwo an einem anderen Ort, und wofür musste ich anderswo alles aufgeben, um hierherzukommen? Die Antwort lag auf der Hand (Gesundheit, Schulden usw.), dennoch war es schlimm, klar und deutlich zu empfinden, dass es nun einerlei ist, wo ich lebe, in Dresden oder anderswo, überall ist fremdes Land, überall bin ich ein losgetrenntes Glied.“
Dostojewski - Gesammelte Briefe 1833 - 1881
 
Dresden, 21. Oktober 1870 - Dostojewski in einem Brief an A. Majkow:
"Ich glaube man kennt in Europa den Stern Sirius besser als Russland."
Ebenda
 
In einem Brief an Strachow 30. Januar 1871
„Gott schütze den Zar und Russland – aber für Europa ist die Zukunft wirklich kritisch.“
 
Bad Ems, 10. Juli 1874 - Dostojewski in einem Brief an seine Frau:
„Die Langeweile plagt, zermürbt mich in diesem elenden Nest. Was für ein Publikum, was für Visagen! Was für hundsgemeine Deutsche. Die Hälfte hier sind Russen, da erübrigt sich jedes Wort; es ist immer traurig, Russen zu sehen, die sich im Ausland herumtreiben; Hohlheit, Leere, Müßiggang und Selbstgefälligkeit in jeder Beziehung.“
Ebenda
 
  © Michael Kanitsch
 
 
Bad Ems, 25. Juni 1875 - Dostojewski in einem Brief an seine Frau:
„Ich bin nach wie vor ganz allein hier, habe keine Bekannten, Russen sind genug gekommen, aber alle aus Reval, aus Livland, irgendwelche Storchs. Alles Unbekannte. Aber seltsam: mich kennt man anscheinend.“
 
Dresden, 30. Dezember 1870 - Dostojewski in einem Brief an Maikow:
„Wenn Sie wüssten welch tiefgehende, an Hass grenzende Abneigung gegenüber Europa ich in den 4 Jahren gefasst habe!“
 
„Deutsche Ordnung ging ihm auf die Nerven. Mit Leuten, die ihm besseres von Deutschland hätten beibringen können, kam er nicht zusammen. Der dürre Ton der Schweizer war ihm unerträglich. Er fand die Menschen arm und verkümmert und Masseninstinkten unterworfen. Zuletzt hat er in Dresden wie ein Gefangener gelebt.“
Meier Graefe S. 69
 
"Ich sehe seine Reiseberichte nicht als Ausdruck von Banausentum. Er hatte keinen Blick und keinen Sinn für Sehenswürdigkeiten, auch, was seine russische Heimat anbetrifft. . .  Die Sehenswürdigkeiten Europas empfand er als arrogant, manchmal geradezu als persönlich kränkend, als seien sie erbaut, ihm Minderwertigkeitsgefühle einzuflößen. . .   Ich erkläre mir seine Abneigung gegen die westliche Architektur, seine Unaufmerksamkeiten gegenüber all den Sehenswürdigkeiten – die er gewiss bildungsmäßig kannte – aus seiner Fremdheit, seiner Gehetztheit, schließlich war er immer auf der Flucht, und er fühlte sich ständig gedemütigt, von der kleinsten Zimmerwirtin bis zum Hotelportier."
Böll, Heinrich; Wir und Dostojewski, Hamburg 1972
 
„Dostojewski als Vertreter der Slawophilen hatte beim Aufstand der Polen ein regelrechter Hasskrampf gegen diese erfasst. Auf seiner ersten Europareise begegnete ihm überall Sympathie für Polen. So wird sein sonderbares Desinteresse, das bis zur ablehnenden Haltung gegenüber Europäern reichte, mehr nachvollziehbar.“
Riester, Jutta; Die Menschen Dostojewskis
 
"Als verarmter russischer Aristokrat, immer wieder im Exil im Westen, litt er an einem Minderwertigkeitskomplex, den er überkompensierte, um sein Selbstbewusstsein zu stützen. Die Russische Idee diente ihm als Beweis russischer Größe."
Neuhäuser; Dostojewski im Kreuzverhör S. 73
 
 
"Europa, was ist es? Ein Kirchhof, mit teuren Gräbern vielleicht, aber jetzt stinkend von Fäulnis, nicht einmal mehr Dünger für die neue Saat. Die blüht einzig aus russischer Erde. Die Franzosen – eitle Laffen, die Deutschen ein niedriges Wurstmachervolk, Engländer – Krämer der Vernünftelei, die Juden – stinkender Hochmut. Der Katholizismus – eine Teufelslehre, eine Verhöhnung Christi, der Protestantismus – ein vernünftlerischer Staatsglaube, alles Hohnbilder des einzig wahren Gottesglaubens; der russischen Kirche. Der Papst – der Satan in Tiara, unsere Städte Babylon, die große Hure der Apokalypse, unsere Wirtschaft, ein eitles Blendwerk, Demokratie, die dünne Brühe weicher Gehirne, die Revolution – ein loses Bubenstück von Narren und Genarrten, Pazifismus – ein Altweibergeschwätz. Alle Ideen Europas ein verwelkter verblühter Blumenstrauß, gut genug, in die Jauche geschmissen zu werden. Nur die russische Idee ist die einzig wahre, einzig große, einzig richtige."
Zweig, Stefan; Drei Meister S. 157
 
 
In welche Orte es Dostojewski in seinem Leben verschlagen hat, können Sie mit einem Klick auf diese Karte* erfahren:
 
 
 
* Der Dank für die Bereitstellung dieser akribischen Arbeit gilt meine-lieblingsbuecher.de
 
 
Literaturhinweise:
 
Harvest, Harry (Hrsg.)
Dostojewski und Europa. Aus dem "Tagebuch eines Schriftstellers".
Rotapfel Verlag   Zürich 1951
 
Dostojewskij und Europa  2010
Goes, Gudrun
 
Literatur und Prophetie: Dostojewskijs Blick auf Europa 2001
Burmeister, Hans-Peter (Hrsg.)
 
Dostojewski und Europa
In: Jahrbuch DDG 2010
Guski, Andreas
Ein kompakter aufschlussreicher Aufsatz.