Forschung

"Es erscheint erstaunlich, dass die Literaturkritik die Frage des Geldes in seinem Werk bisher nur beiläufig angesprochen hat." Kühn, Christian; Dostojewskij und das Geld. In: DDG Jahrbuch XI  S. 123


Sehr aufschlussreich ist bereits der Auszug einer Ankündigung im Rahmen des Forschungsprojekts des Slavischen Seminars der Universität Basel "Literatur und Kommerz in Russland" unter der Führung von Prof. Dr. Andreas Guski. Das Teilprojekt „Dostojewski und das Geld“ wurde leider verschoben. Ergebnisse dieses Projektes von Prof. Dr. Guski und Anton Seljak erschienen 2012 in den Dostoevskij Studies.

"Von den großen russischen Romanciers des 19. Jh. hat keiner unter der Kommerzialisierung des literarischen Lebens so gelitten, andererseits aber auch deren Gesetze sich so zu Nutze zu machen gewusst wie F. M. Dostoevskij (1821 - 1881). Das Handwerk des Literaten bezeichnete Dostoevskij wiederholt als "Sklavenarbeit". Fast alle seine Romane wurden unter extremem Zeitdruck und unter dem Damoklesschwert drohender Konventionalstrafen geschrieben. Da Dostoevskij weder über das reguläre Gehalt eines Staatsdieners noch über ein Vermögen aus Erbe oder Ländereien verfügte, war er ausschließlich auf seine Einkünfte aus literarischer Arbeit angewiesen.

Dostoevskijs Beziehung zum Geld ist durch die gleiche Ambivalenz gekennzeichnet wie die eines Spielers, nämlich durch das Zugleich von Hass und Begehren. Allerdings spielt Dostoevskij selbst, wie Grossman (1925) und Gerigk (1981) gezeigt haben, souverän auf der Klaviatur des professionellen, am Marktabsatz seiner literarischen Erzeugnisse interessierten Romanciers raffiniert einkalkuliert.

(c) Kolbillustration

Vor diesem Hintergrund erklärt sich, wieso Geld auch in Dostoevskijs Romanwelt von den Bednye ljudi (1846) bis hin zu den Brat'ja Karamazovy (1880/81) nicht nur eine Rolle, sondern eine Hauptrolle spielt. Mit Dostoevskijs prozess- und haftbedingter Konversion vom Sozialisten des Petrasevskij-Zirkels der 1840er Jahre zum überzeugten Nationalchristen der 1850er Jahre und parallel zum Vormarsch kapitalistischer Wirtschaftsformen in Russland vollzieht sich in seinem Werk auch eine Konversion seiner ideologischen "Leitwährung" (Hörisch 1996). Knappheit des Geldes war im System der "natürlichen Schule" ein Zeichen für soziale Unterprivilegierung. Der Wert des Geldes an sich blieb letztlich unhinterfragt.

Hinzuweisen ist vor allem auf sexuelle und finanzielle Begierden ("zazdy") der Helden als zentrale Motive aller Romansujets. Körper und Münze, warm und kalt, Mensch und Ding werden zu Scheinäquivalenten, hinter denen als utopisches Gegenzeichen die christliche Nächstenliebe aufscheint. Weder auf individueller Ebene (Gewissen) noch im sozialen Raum (Justiz) gibt es orientierende Grenzzeichen (Tabus). Die Grenzübertretung kann in diesem Zustand allgemeiner Verblendung zum Normalfall werden, denn `alles ist erlaubt`. Dostoevskij hat seine Kritik an den tiefensemantischen Folgen der `monetären Zweitcodierung der Welt` (Hörisch 1996, 55) besonders scharf in den Brat'ja Karamazovy, aber auch im Dnevnik pisatelja am Beispiel des zeitgenössischen russischen Gerichtswesens betrieben (Guski 1998)."
Ursprüngliche Quelle: http://www.slavistik.unibas.ch/nfkommerz.htm

Ergebnisse des Projektes "Literatur und Kommerz in Russland" sind unter anderem zu finden im Sammelband "Literatur und Kommerz in Russland" Prof. Dr. Andreas Guski und Prof Dr. Ulrich Schmidt (2004) und "Turgenevs Ökonomien" Anton Seljak (2004).



„Das Geld erlangt für ihn die Wesenheit einer Person, von der er sich quälen ließ, die unmittelbar und mittelbar in seine Schöpfungen eingriff und zu Gestaltungen trieb.“
Julius Meier-Gräfe
Kühn, Dostojewskij und das Geld In Jahrbuch DDG 2004 S. 124

„Geld spielt bei ihm fast die Rolle, wie Moby Dick, der weiße Wal, bei Melville. Dostojewskij und fast alle seine Gestalten sind hinter ihm her und haben es nie.“
Heinrich Böll, Wir und Dostojewskij

"Das einflussreichste Alternativsystem, gegen das sich Dostoevskij in seinem Roman Der Idiot wendet, ist das ökonomische Denken. Die Vielzahl pekuniärer Referenzen im Idiot ist nicht zu übersehen. Dostoevskij verwendet große Anstrengung darauf, den Leser über den Kontostand der Hauptpersonen auf dem Laufenden zu halten. Myschkin etwa kommt ohne eine Kopeke nach Russland, gegen Ende des Romans verfügt er über ein Kapital von 135.000 Rubeln. Innerhalb der fiktionalen Wirklichkeit gibt es nur zwei Wege, zu Geld zu kommen: Man erbt es, oder man leiht es sich.

Bei Dostoevskij unterscheiden sich Reiche und Arme nicht durch die Art und den Umfang des Einkommens, sondern nur durch die Bereitschaft, Geld auch wieder weiter zu verleihen. So ist es bezeichnend, dass Fürst Myschkin jene 25 Rubel, die er bei seinem Vorstellungsbesuch von General Epanschin erhalten hat, wenig später an eine arme Witwe weitergibt und selbst wieder mittellos dasteht.
 Aus Dostojewskis Manuskript Der Idiot 1867

Mit anderen Worten: Myschkin verzichtet hier nicht auf eine bestimmte Summe, sondern auf seinen gesamten Besitz. Vor dem Hintergrund dieser Ökonomiekonzeption verliert Geld seine Fähigkeit, verschiedene Güter miteinander verrechenbar zu machen. Besonders deutlich zeigt sich die Irrelevanz der Geldmenge an Rogoschins bizarrem Versuch, Nastasja Filippovna von ihrem Bräutigam loszukaufen - sein Steigerungsangebot beginnt bei 3.000 Rubeln und endet bei 100.000.

Der ganze Roman ist darauf angelegt, den Glauben an die ökonomische Regulierbarkeit des Lebens als Illusion zu entlarven: Geld wird als ein völlig inadäquates Medium zur Einschätzung verschiedener Güter präsentiert. In der Axiologie des Romans verfügt Geld über keinen eigenen Wert, sondern erschleicht sich gewissermaßen den Wert der Dinge, gegen die es eingetauscht werden kann: Dostoevskij entlarvt das Geld als Fetisch der kapitalistischen Gesellschaft."
Schmid Ulrich; Rogoschins Hochzeitsnacht: Figurale Spaltung als künstlerisches Verfahren im Roman „Der Idiot“

"Geld zur Entschlüsselung des Mysteriums Mensch als Vergrößerungsglas bei der Beschreibung der Charaktere eingesetzt, erklärt uns bei den männlichen Protagonisten ihr Verhalten und deren Entwicklung. Mehr noch als die Männer, werden Frauen beinahe ausschließlich über Geld definiert."
Kühn, Christian; Dostojewskij und das Geld. In: DDG Jahrbuch XI  S. 129

„Nirgends aber, das ist hinzuzufügen, tritt das Geld als greifbare Materie so nackt vor Augen wie im `Spieler`. Dostojewskij hat hier das Geld in all seinen mittelbaren und unmittelbaren Erscheinungsformen erscheinen lassen.“
Gerigk, Hans-Jürgen; Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller S. 285