London
Von den Erfahrungen seiner ersten Auslandsreise im Jahre 1862, wo er unter anderem London besuchte, berichtet er in seinen "Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke". (1863 erschienen)
"Ich war im ganzen nur acht Tage in London, aber wenigstens äußerlich – mit wie breiten Bildern, wie scharfen Linien, wie eigenartigen, nicht nach einem Leisten regulierten Plänen hat es sich in meiner Erinnerung eingezeichnet. Alles ist so riesenhaft und kraß in seiner Eigenart. Sogar täuschen lassen kann man sich von dieser Eigenart. Jede Kraßheit, jeder Widerspruch steht hier Seite an Seite mit der eigenen Antithese und sie gehen eigensinnig Arm in Arm einher, sich gegenseitig widersprechend und doch anscheinend keineswegs einander ausschließend."
"Was für breite, erdrückende Bilder! Sogar äußerlich: was für ein Unterschied gegen Paris. Diese Tag und Nacht hastende und wie ein Meer unumfaßbare Stadt, dieses Gepfeif und Geheul der Maschinen, diese über den Häusern (und bald auch unter ihnen) hinjagenden Eisenbahnen, diese Dreistigkeit des Unternehmungsgeistes, diese scheinbare Unordnung, die im Grunde die bourgeoise Ordnung in höchster Entwicklung ist, diese vergiftete Themse, diese mit Kohlenstaub durchsetzte Luft, diese großartigen Squares und Parks, diese unheimlichen Stadtwinkel wie Whitechapel mit seiner halbnackten, wilden und hungrigen Bevölkerung, die City mit ihren Millionen und dem Welthandel, der Kristallpalast, die Weltausstellung ... Ja die Ausstellung kann einen stutzig machen. Man spürt die furchtbare Kraft, die hier alle diese unzähligen Menschen aus der ganzen Welt zu einer einzigen Herde zusammengetrieben hat; man erkennt einen Riesengedanken; man fühlt, dass hier bereits etwas erreicht ist: ein Sieg, ein Triumph. Und eine Angst vor irgendetwas beginnt sich in einem zu erheben. Wie frei und unabhängig man auch sein mag, um irgendetwas überkommt einen doch eine Angst. »Sollte am Ende dies das erreichte Ideal sein?« denkt man bei sich, »ist hier nicht das Ende? Ist das nicht doch schon die verwirklichte › eine Herde‹ der Weissagung? Wird man die nicht wirklich als die volle Wahrheit annehmen und endgültig verstummen müssen?« All das ist so herrschend, so siegbewußt und stolz, dass es Ihnen den Atem zu beengen anfängt. Sie sehen diese Hunderttausende, diese Millionen von Menschen, die gehorsam aus der ganzen Welt hierher zusammenströmen, – Menschen, die alle mit einem einzigen Gedanken gekommen sind, die still, unablässig und stumm sich in diesem riesenhaften Palast umherdrängen, und Sie fühlen, dass sich hier endgültig etwas vollendet, vollendet und vollbracht hat. Das ist irgendein biblisches Bild, irgendwas von Babylon, ist eine Prophezeiung aus der Apokalypse, die sich leibhaftig verwirklicht hat."
Kristallpalast in London
"In den Fleisch- und Eßwarenläden brennt das Gas in dicksten Flammenbüscheln, die grell die Straßen erhellen. Es ist geradezu, als werde für diese weißen Neger ein Ball veranstaltet. In den offenen Tavernen und in den Straßen überall ein Volksgedränge. Hier wird auch gegessen und getrunken. Die Trinkstuben sind aufgeputzt wie Paläste. Alles ist betrunken, doch ohne Fröhlichkeit, ist vielmehr finster, schwer, und alles ist irgendwie eigentümlich stumm. Nur hin und wieder wird diese verdächtige und auf Sie traurig wirkende Schweigsamkeit von Schimpfwörtern und blutigen Prügeleien gestört. Alles das beeilt sich, zu trinken, sich bis zur Bewußtlosigkeit zu betrinken ...
Die Frauen stehen den Männern nicht nach und betrinken sich gleich diesen; die Kinder laufen und kriechen zwischen ihnen umher. In einer solchen Nacht, es war gegen zwei Uhr, verirrte ich mich einmal und trieb mich lange in den Straßen umher inmitten der unzählbaren Menge dieses finsteren Volkes, fast nur mit Zeichen den Weg erfragend, da ich kein Wort Englisch kann. Ich fand schließlich den Weg, aber der Eindruck dessen, was ich gesehen, quälte mich nachher noch drei Tage. Volk ist überall Volk, hier aber war alles so kolossal, so grell, dass man gleichsam körperlich fühlte, was man sich bislang nur geistig vorgestellt hatte."
"Dort in Hay-Market habe ich Mütter gesehen, die ihre eigenen kleinen Töchter zu diesem Gewerbe anleiteten. Und diese kleinen, vielleicht zwölfjährigen Mädchen fassen einen an der Hand und bitten einen, doch mit ihnen zu gehen. Einmal erblickte ich in dem Gewimmel der Straße ein Kind, ein Mädchen von höchstens sechs Jahren, bestimmt nicht älter, in Lumpen gekleidet, schmutzig, barfuß, ausgemergelt und blaugeschlagen – ihr Körper, den man durch die zerrissenen Lumpen sah, war mit blauen Flecken bedeckt. Das Kind ging ohne zu wissen wohin, ja ohne zu wissen, dass es überhaupt ging, ohne sich zu beeilen – Gott weiß weshalb es sich in dem Gewimmel umhertrieb. Vielleicht war es hungrig. Es wurde von Niemand beachtet.
Doch was mich am meisten betroffen machte: dieses Kind ging mit dem Ausdruck eines solchen Kummers, einer so hoffnungslosen Verzweiflung im Gesicht, dass der Anblick dieses kleinen Geschöpfes, das schon so viel Fluch und Jammer trug, irgendwie geradezu widernatürlich war und entsetzlich schmerzte. Die Kleine wiegte beim Gehen ihren zerzausten Kopf immer hin und her, von einer Seite auf die andere, ganz als erwäge sie etwas, dazu gestikulierte sie in einem fort, hob ihre kleinen Ärmchen oder schlug plötzlich die Händchen zusammen und presste sie an ihre nackte, kleine Brust. Ich kehrte um, ging ihr nach und gab ihr einen halben Schilling. Sie nahm die Silbermünze, sah mir dann scheu mit ängstlicher Verwunderung in die Augen und plötzlich begann sie zu laufen, so schnell es ihr im Gedränge nur möglich war, ganz als fürchtete sie, dass ich ihr das Geld wieder wegnehmen könnte. – Ja, es gibt schon eigene Dinge ..."
Auszüge aus dem 5. Kapitel
Haymarket in London um 1900 © Wikigallary