Tod des Vaters
„Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass es durchaus Zweifel an dieser Version gibt.“
Hosking, Geoffrey; Russland - Nation und Imperium, Geoffrey Hosking; Siedler Verlag Berlin, 2000 S. 335
Es gibt diverse Versionen über die Todesursache und deren Entstehung. In der Regel wird kolportiert, dass er von seinen Leibeigenen erstickt oder erschlagen worden ist; wegen seiner Grausamkeit ihnen gegenüber.
Mit diesem Problem setzt sich Geir Kjeetsa* in seiner Dostojewski-Biographie „Dostojewskij, Sträfling - Spieler - Dichterfürst“ (S. 44 ff) ausführlich und gründlich auseinander. Er kommt zu folgendem Schluss:
„Es ist also durchaus angebracht, einmal hervorzuheben, dass nicht der mindeste Beweis für die Ermordung des Vaters existiert. Ganz im Gegenteil ist jetzt bewiesen, dass zwei Ärzte seinen natürlichen Tod attestierten . . .“
* Kjetsaa, Gejr; Professor für Russische Literaturgeschichte an der Universität Oslo
„Im Jahr 1975 zweifelte der sowjetische Literaturwissenschaftler Gennadij Fjodorow den Mord an Dostojewskijs Vater an. Anhand bis dahin unbekannten Archivmaterials wollte er belegen, dass der alte Dostojewski ein armer (nicht geiziger) von seinen Kindern geliebter und von seinen Bauern durchaus verehrter Mann gewesen und an einem Schlaganfall gestorben sei. Seine Auslegung des Falls konnte sich jedoch nicht durchsetzen, die Quellenlage tendiert zu eindeutig in Richtung Mord und anschließender Vertuschungsaktion.“
Hamel, Christine; Dostojewskij S. 21
Es gab darüber hinaus eine zweite Untersuchung. Ein Gutsbesitzer äußerte Zweifel, die sich jedoch in keiner Hinsicht verifizieren ließen. Auch das Gerücht kursierte, dass Bauern das Gericht bestochen hätten. Anhaltspunkte dafür fanden sich nicht. Vgl. Spiegel 29/1975
Behauptet wird dies z. B. bei Braun Maximilian, S. 21
„Bei der behördlichen Untersuchung wurde der Mord im Interesse der Familie geschickt verschleiert, doch ist an der Tatsache nicht zu zweifeln.“
Was auch immer der Fall war, mit 16 Jahren war Dostojewski Waise; sein Familienleben war beendet.
Dostojewski soll sich lediglich dreimal zu dem Tod seines Vaters geäußert haben.
Das Sommerhäuschen auf dem Landgut in Darowoje
16. August 1839 - Dostojewski an seinen Bruder Michael:
"Lieber Bruder! Ich habe viel Tränen über den Tod unseres Vaters vergossen, aber jetzt ist unsere Lage noch viel schrecklicher; ich spreche nicht von mir sondern von unserer Familie."
Und damit geht er wieder über in seine Mantra-ähnliche Klagelitanei um das liebe Geld. Für Dostojewski, der jedes Leid bis zur Gänze selbstverliebt zu zelebrieren wusste, war der Tod seines Vaters wohl keine Möglichkeit, die er weder nutzen konnte noch wollte.
Dostojewskis Vormund, da nun ohne Eltern, wurde der Mann von Dostojewskis ältester Schwester, Pjotr Andrejewitsch Karepin. Diesen Mann hatte er noch nie gemocht. Naheliegend ist da die ständige Unzufriedenheit Dostojewskis, in der Regel selbstverschuldeten, desaströsen finanziellen Misslagen zu regulieren.
Geir Kjetsaa weist aufgrund seiner Untersuchung amtlicher Dokumente nach, dass der Vater einem Schlaganfall erlag. In einem Bericht heißt es:
„Am Morgen des 6. Juni dieses Jahres verschied unerwartet der 54jährige Hofrat Michail Andrejewitsch Dostojewskij. Herr Dostojewski verwaltete die Güter seiner verstorbenen Frau im Dorf Darowoje, Kreis Kaschira, und hatte sich auf den Feldern aufgehalten, um seine Bauern zu inspizieren. Von diesem Gericht durchgeführte Untersuchungen geben keinen Grund zu dem Verdacht, dass Herrn Dostojewskis Tod gewaltsam herbeigeführt wurde. Wie aus Dr. Schönknechts Sterbeurkunde hervorgeht, trat der Tod in Folge eines Schlaganfalls ein, ... da die übliche Medizin nicht eingenommen worden war.
(. . .)
Vor der Ausstellung der Sterbeurkunde war schon ein anderer Arzt von den Bauern herbeigerufen worden, der aber nicht berechtigt war, eine Sterbeurkunde auszustellen. D. h. der Tod Dostojewskis Vater wurde von zwei Ärzten untersucht, später wurde seinem Tod noch gerichtlich nachgegangen, weil der Nachbar Pawel Chotjainz, mit dem Vater Dostojewskis Streitigkeiten hatte, die Bauern wegen angeblicher gewaltsamer Tötung verleumdete. Er wollte erreichen, dass die Bauern nach Sibirien deportiert wurden, um so billig an das Land der Dostojewskis zu kommen. Da die Anklage gegen die Leibeigenen aus verständlichen Gründen von der Behörde, dem Kriminalgericht in Tula, sehr ernst genommen wurde, wurden die Umstände des Todes eingehend betrachtet. Alle Bauern wurden freigesprochen, was damals schon aus Gründen der Abschreckung sehr selten vorkam. Dies alles zeigt, wie höchst unwahrscheinlich ein gewaltsamer Tod vom Vater Dostojewskis ist."
Kjetsaa, Geir; Der gewaltigste unter den russischen Giganten
"Es existiert nicht der mindeste Beweis für eine Ermordung des Vaters Dostojewskis. Auch ist nirgends nachweisbar, dass Fjodor Dostojewski selbst an einen gewaltsamen Tod des Vaters glaubte. Im Gegenteil taucht in Dostojewskis Romanen das Motiv der ungerechtfertigt des Herrenmordes angeklagten Bauern auf, die verleumdet wurden."
Kutting, Dirk; Dostojewski - Passion und Bußkur
Der Vater
Michail Andrejewitsch Dostojewskij (1789 - 1839)
"Dass er (der Vater) von seinen eigenen leibeigenen Bauern erschlagen worden sein soll, ist nicht erwiesen und nach den zeitgenössischen juristischen Dokumenten, die keinen Hinweis auf ein entsprechendes Gerichtsverfahren enthalten, zu dem es unter diesen Umständen in jedem Fall gekommen wäre, auch eher unwahrscheinlich."
Dostoevsky Studies, New Series, Vol. XIV (2010); Dietrich v. Engelhardt F. M. Dostojewskij: Der Spieler. Phänomene, Ursachen, Ziele und Symbolik einer Sucht S. 91