Arme Leute

Doch da stürzen schon Grigorowitsch und Njekrassoff herein, fallen über mich her, umarmen mich mit wahrer Begeisterung und es fehlt nicht viel, daß sie beide in Tränen ausbrechen. Sie waren am Abend zeitig heimgekehrt, hatten mein Manuskript in die Hand genommen und zu lesen angefangen, nur so zur Probe: »nach zehn Seiten wird man schon sehen«. Doch nachdem sie zehn Seiten gelesen hatten, beschlossen sie, weitere zehn zu lesen, dann aber lasen sie schon ohne Unterbrechung die ganze Nacht durch bis zum Morgen, laut und sich gegenseitig ablösend, wenn der eine ermüdete. »Er liest da vom Tode des Studenten,« erzählte mir Grigorowitsch später, als wir allein waren, »und da, an der Stelle, wo der Vater dem Sarge nachläuft, merke ich, Njekrassoffs Stimme schwankt, einmal, das zweite Mal, und plötzlich hält er's nicht aus und schlägt mit der flachen Hand aufs Manuskript: ›Ach, daß ihn doch!‹ – damit meinte er Sie, und so ging's die ganze Nacht!« Als sie zu Ende gelesen hatten (sieben Druckbogen!), beschlossen sie einstimmig, sofort mich aufzusuchen: »Was tut's, daß er schläft, wir wecken ihn auf, das ist höher als Schlaf!«
 
 Dimitri Grigorowitsch Selbstporträt 1840
 
Später, als ich den Charakter Njekrassoffs schon kannte, habe ich mich oft über jene Stunde gewundert: er ist doch von Natur ein verschlossener, fast mißtrauischer Mensch, vorsichtig, wenig mitteilsam. So wenigstens ist er mir immer erschienen, und danach zu urteilen, muß jener Augenblick unserer ersten Begegnung in Wahrheit der Durchbruch eines tiefsten Gefühls gewesen sein. Sie blieben damals ungefähr eine halbe Stunde bei mir, und in dieser halben Stunde sprachen wir Gott weiß was alles durch, verstanden einander schon nach halben Worten, uns überstürzend, sprachen mehr in Ausrufen als in Sätzen, hastend: sprachen auch von der Dichtkunst, auch von der Wahrheit, auch von der »damaligen Lage«, natürlich auch von Gogol, zitierten aus seinem »Revisor« und aus den »Toten Seelen«, aber das wichtigste war Bjelinski. »Ich bringe ihm noch heute Ihr Manuskript und Sie werden sehen – das ist ein Mensch, wenn Sie wüßten, was das für ein Mensch ist! Sie werden ihn ja kennen lernen, dann werden Sie selbst sehen, was das für eine Seele ist!« sagte Njekrassoff, der mich mit beiden Händen an den Schultern hielt und schüttelte, einfach mit Begeisterung. »Na, aber jetzt schlafen Sie, schlafen Sie, wir gehen schon, morgen aber sofort zu uns!« – Als ob ich danach hätte schlafen können! Welch ein Entzücken das war, – solch ein Erfolg! Doch vor allem – das Gefühl war mir teuer, ich weiß noch genau: »Ein anderer hat Erfolg, nun, man lobt ihn, begegnet ihm, man beglückwünscht; aber die hier kamen doch mit Tränen in den Augen hergelaufen, um vier Uhr morgens, um mich aufzuwecken, denn das ist höher als Schlaf! ... Ach, – wie ist das schön!« Das war es, was ich damals dachte, wo hätte ich da schlafen können!
 
 Nekrassow
 
Njekrassoff brachte das Manuskript noch am selben Tage zu Bjelinski. Er verehrte Bjelinski über alle Maßen und ich glaube, er hat ihn sein Leben lang von allen am meisten geliebt. Damals hatte Njekrassoff noch nichts von solcher Bedeutung geschrieben, wie es ihm erst bald darauf, im folgenden Jahre, gelang. Soviel ich weiß, war Njekrasfoff als Sechzehnjähriger nach Petersburg gekommen, ganz allein. Und geschrieben hatte er fast auch schon seit seinem sechzehnten Lebensjahre, über seine Bekanntschaft mit Bjelinski weiß ich nicht viel, aber Bjelinski hat ihn sofort, schon beim ersten Anfang richtig eingeschätzt und die Stimmung seiner ganzen Kunst vielleicht stark beeinflußt. Sicherlich hatte es zwischen ihnen bereits damals, trotz der Jugend Njekrassoffs und ihres Altersunterschiedes, schon Augenblicke gegeben und waren schon Worte gefallen, die fürs ganze Leben beeinflussen und untrennbar verbinden.
 
»Ein neuer Gogol ist erschienen!« rief Njekraffoff laut, als er mit meinen ›Armen Leuten‹ bei Vjelinski eintrat. »Bei Euch wachsen ja die Gogols wie die Pilze,« bemerkte Bjelinski in strengem Ton, aber er nahm doch das Manuskript. Als Njekrassoff am Abend wieder zu ihm kam, empfing Bjelinski ihn ›einfach in Aufregung‹: »Bringen Sie ihn mir, bringen Sie ihn so schnell wie möglich her!«
 
Und da brachten sie mich denn (das war also schon am dritten Tage) zu ihm. Ich weiß noch, daß mich auf den ersten Blick sein Äußeres sehr frappierte, seine Nase, seine Stirn; ich hatte ihn mir, ich weiß nicht warum, ganz anders vorgestellt, ›diesen furchtbaren, diesen schrecklichen Kritiker.‹ Er empfing mich ungeheuer ernst und zurückhaltend. »Nun was, vielleicht ist das gerade das Richtige,« dachte ich, aber es verging, ich glaube, noch nicht einmal eine Minute und schon verwandelte sich alles: der Ernst war nicht die vorbedachte Haltung einer berühmten Persönlichkeit, eines großen Kritikers, der einen zweiundzwanzigjährigen Neuling empfing, sondern dieser Ernst entsprang sozusagen seiner Achtung vor jenen Gefühlen, die er so schnell wie möglich in mich ergießen wollte, vor jenen schweren Worten, die mir zu sagen er sich selbst hetzte. Er begann flammend zu sprechen, sah mich mit glühenden Augen an: »Ja, begreifen Sie denn überhaupt selbst,« wiederholte er mehrere Male, nach seiner Gewohnheit stoßweise schreiend, »was Sie da geschrieben haben!« Er schrie immer so, wenn er mit starkem Gefühl sprach. »Sie haben nur mit unmittelbarem Instinkt, nur als Künstler das schreiben können, aber haben Sie das alles auch mit dem Verstande erfaßt, diese ganze furchtbare Wahrheit, auf die Sie uns hinweisen? Es ist nicht möglich, daß Sie mit Ihren zwanzig Jahren das schon begriffen hätten. Ja dieser unglückliche Beamte, den Sie da gezeichnet haben, – der ist doch durch das ewige Dienen schon dahin gekommen –, hat sich ja selber schon dahin gebracht, daß er sich vor lauter Unterwerfung nicht einmal mehr für unglücklich zu halten wagt und auch die geringste Klage fast schon für Freidenkerei ansieht, ja, der sich sogar das Recht, sich unglücklich zu fühlen, nicht einmal mehr zuzusprechen wagt, und als ihm ein guter Mensch, sein General, jene 100 Rubel gibt – da ist er zermalmt, vernichtet vor Verwunderung, daß einen solchen Menschen wie er ›Ihre Exzellenz‹ haben bemitleiden können, nicht ›Seine Exzellenz‹, sondern ›Ihre Exzellenz‹, wie er sich bei Ihnen ausdrückt! Und dieser abgerissene Knopf, dieser Augenblick, wo er dem General die Hand küßt, – ja da ist doch nicht mehr Mitleid mit diesem Unglücklichen, sondern Grauen, Grauen!
 
Gerade in dieser seiner Dankbarkeit liegt das Grauen! Das ist eine Tragödie! Sie haben hier das Wesen der Sache, den Kern selbst berührt, das Allerwichtigste mit einem Blick gezeigt. Wir Publizisten und Kritiker, wir deuteln bloß, wir bemühen uns, mit Worten das klar zu machen, Sie aber, der Künstler, Sie stellen mit einem einzigen Zug sofort bildlich greifbar das Wesen selbst der Sache hin, daß man es mit der Hand befühlen kann, daß auch einem Leser, der überhaupt nicht zu denken gewohnt ist, alles sofort verständlich ist! Das ist das Geheimnis des Künstlertums, das ist die Wahrheit in der Kunst! Da steht der Künstler im Dienst der Wahrhaftigkeit! Ihnen ist die Wahrheit offenbart und kund, als einem Künstler, Sie haben das als eine Gabe mitbekommen, schätzen Sie nun Ihre Gabe, bleiben Sie treu, und Sie werden ein großer Künstler sein!«
 
 Belinski 1838
 
Alles das sagte er damals zu mir. Alles das sagte er später über mich auch vielen anderen, die heute noch leben und es bezeugen können. Ich verließ ihn wie in einem Rausch. Ich blieb an der Ecke seines Hauses stehen, sah den Himmel über mir, sah den hellen Tag, sah die vorübergehenden Menschen an und fühlte voll und ganz, empfand mit meinem ganzen Wesen, daß in meinem Leben ein feierlicher Augenblick eingetreten war, eine Scheidung für immer, daß etwas ganz Neues begann, jedoch etwas, das ich auch in meinen leidenschaftlichsten Träumen nicht gedacht hatte. (Und ich war damals ein schrecklicher Träumer.)
 
Auszüge aus dem Tagebuch eines Schriftstellers (Artikel "Die russische Satire. Neuland. Die letzten Lieder.  Alte Erinnerungen") 1873