Puschkin-Rede
Veröffentlichung
1880 August als Sonderheft des Tagebuch eines Schriftstellers (Puschkin-Rede, mit Einleitung, Ergänzungen und kritischen Erwiderungen).
Januar 1881 erstmalig in Katkows Zeitschrift "Moskauer Zeitung"
Ursprünglich trug sich Dostojewski mit der Absicht, ausschließlich die Rede zu veröffentlichen. „Als dann jedoch die Kritik der Presse einsetzte, änderte er seinen Entschluss und brachte mit der Rede auch seine Erwiderungen auf die Kritik.“
Hitzer (Hrsg.); Briefe, Piper, Angang S. 630
Inhalt
"Er versuchte an der Erscheinung Puschkins zu beweisen, dass das tiefste Wesen des Russentums, als dessen echtesten Vertreter er Puschkin hinstellte, im ›Allmenschentum‹, in der Fähigkeit, mit seinem Geiste das Denken und Fühlen aller Völker zu durchdringen und zu umfassen, liege. In diesem Sinne seien alle Russen Westler, und das Westlertum eine spezifisch russische Erscheinung. Da ihm die Gestalt Puschkins nur als Vorwand diente, sein nationales Bekenntnis abzulegen, ist die Charakteristik des Dichters mangelhaft und einseitig geraten. Es war weniger der Inhalt der Rede als die ekstatische Art des Vortrages, was die Zuhörer, vor allem Dostojewskijs Gegner entzündete. Die Slawophilen dagegen waren enttäuscht; so viel Feuer konnten sie nicht ertragen, auch passte ihnen, was Dostojewskij über das Allmenschentum des Russen sagte, nicht recht in das Konzept."
Eliasberg, Alexander; Russische Literaturgeschichte in Einzelporträts
Anmerkungen
Dostojewski hielt am 8. Juni 1880 im Säulensaal des Hauses der Moskauer Adelsversammlung auf Einladung der "Gesellschaft der Freunde der Russischen Literatur" eine Rede anlässlich der Einweihung des Moskauer Puschkin-Denkmals.
„Die Liberalen wendeten sich gegen Dostojewskis Behauptung von der russischen Überlegenheit, als einem Beispiel nationaler Selbstüberheblichkeit. Gleb Iwanowitsch Uspenski schrieb: `Es ist schwer, jemanden zu verstehen, der in sich selbst solche Widersprüche trägt, und es wird nicht überraschen, wenn diese Rede, sobald sie gedruckt vorliegen wird und sorgfältig gelesen werden kann, einen ganz anderen Eindruck machen wird.` “
Kohn, Hans; Propheten ihrer Völker S. 237
„Die Puschkin-Rede war keine Improvisation. Ihre Grundgedanken hatte er bereits 1861 veröffentlicht.“
Stepun, Fedor; Dostojewski Weltschau und Weltanschauung
„Die Rede zur Puschkin-Feier war der Extrakt einer zwanzigjährigen Arbeit. Schon in den sechziger Jahren finden wir in der Zeitschrift `Die Zeit` Aufsätze gleichen Gedankeninhaltes, nur in weniger vollendeter Form.“
Maurina, Zenta; Dostojewskij - Menschengestalter und Gottsucher S. 157
Einweihungsfeier des Moskauer Puschkin-Denkmals 1880
"Heute Morgen fand meine Rede im Saal der Freunde statt. Der Saal war überfüllt . . . Als ich herauskam, erhob sich donnernder Beifall, der mich lange, sehr lange am Lesen hinderte. Ich verbeugte mich, beschwichtigte durch Gesten, bat, mich lesen zu lassen – alles vergeblich; Begeisterung, Enthusiasmus (alles durch die `Karamasows`!) Endlich begann ich zu lesen: Ich wurde tatsächlich nach jeder Seite und manchmal sogar nach jedem Satz durch donnernden Beifall unterbrochen. Ich las laut, feurig. Als ich aber gegen Schluss auf die allweltliche Einigung der Menschen zu sprechen kam, brach in dem Saal eine Art Hysterie aus, und als ich schloss – ich bin außerstande, den Sturm, den Schrei der Begeisterung zu beschreiben:
Unbekannte im Publikum brachen in Tränen aus, schluchzten, umarmten sich und schworen einander, besser zu werden, sich nicht mehr zu hassen, sondern zu lieben. Die Tagesordnung wurde gesprengt, alle stürzten zu mir auf das Podium: Elegante Damen, Studentinnen, Staatssekretäre, Studenten – alles umarmte und küsste sich. Die Mitglieder unserer Gesellschaft, die auf dem Podium gesessen hatten, umarmten und küssten mich, und allen, buchstäblich allen standen die Tränen der Ergriffenheit in den Augen. Man ließ mich ungefähr eine halbe Stunde lang nicht gehen, man schwenkte Tücher . . . `Prophet, Prophet!` rief man in der Menge.
Turgenjew, den ich in meiner Rede anerkennend erwähnt hatte, stürzte mit Tränen in den Augen auf mich zu und umarmte mich.“
Hitzer; Dostojewski - Gesammelte Briefe 1833-1881, Piper 1966
Vermeintlich haben sich bei diesem Anlass Dostojewski und Turgenjew "versöhnt".
Eine detaillierte Schilderung der Tage, die Dostojewski anlässlich dieser Rede in Moskau verbrachte, gab er selbst in den Briefen an seine Frau (vom 27. Mai bis zum 8. Juni 1880).
Zudem gibt Strachow in seinen Erinnerungen (1882) an Dostojewski eine gute atmosphärische Beschreibung der Feierlichkeiten wieder. Auf Deutsch zu finden in Dostojewski; Literarische Schriften, Piper 1921 ab Seite 76
Skizze Dostojewskis zu seiner Puschkin-Rede
„Dostojewski unterstellt Puschkin eine nationalistische Gesinnung, was sachlich nicht haltbar ist, und projiziert damit seine eigene Auffassung vom Dichter auf seinen großen Kollegen.“
Gerigk, Hans-Jürgen; Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller S. 56
"Dostojewski sieht in Puschkin das einzigartige, von keinem anderen russischen oder ausländischen Dichter erreichte Vermögen, sich vollständig in den Geist anderer Völker hineinzuversetzen. In diesem Sinne sei er eine noch nie dagewesene Erscheinung, und eben in dieser Fähigkeit habe sich am stärksten seine nationale russische Kraft geäußert."
Vgl. Puschkin - Russland und sein erster Dichter S. 153 – 157
„In einer seiner größten Kundgebungen, in der Rede zu Puschkins Gedächtnis, versuchte er dennoch, den Panslawisten zugerechnet, die Synthese herzustellen zwischen den Westlern und den Russophilen. Das Ergebnis war am selben Abend ein glänzendes. Anhänger beider Parteien stürzten auf ihn zu, umarmten ihn und erklärten sich mit seinem Standpunkt einverstanden. Aber diese Einigkeit dauerte nicht lange.“
Adler, Alfred; Praxis und Theorie der Individualpsychologie - Dostojewskij (1918)