Tschernyschewski, Nicolaj (1828 - 1889)
Belinskis „Brief an Gogol“ (1847) übte auf Tschernyschewski und Dobroljubow nicht zuletzt einen nennenswerten Einfluss aus. Diesen gegen Autokratie, Mystizismus und Kirche gerichteten Brief hatte Dostojewski noch mehrfach im Petraschewski-Kreis verlesen.
„Ab 1854 erschienen im `Sowremennik` die Artikel Tschernyschewskis, später die von Dobroljubow, die den Ton der Kritik angeben. Der Zeitgenosse wurde das führende Organ der radikalen Demokraten.“
Briefe, Piper S. 716
Dostojewskis "Zeit" wird später heftig gegen sie polemisieren, so z. B. parodiert Dostojewski in `Petersburger Träume in Vers und Prosa` (Wremja Nr. 1 1861) den neuen Kritiker-Ton von Dobroljubow und Tschernyschewski, der inzwischen die Zeitschrift `Sowremennik` redigierte.
Tschernyschewski bezeichnet 1859 Dostojewskis erste Publikation nach seiner Haft, `Onkelchens Traum`, als das Ende der literarischen Laufbahn des Dichters.
Vgl. Neuhäuser, Das Frühwerk Dostoevskijs S. 196
Unbesehen davon ergeben sich 1859 erste persönliche Kontakte zwischen Tschernyschewski und Dostojewski. Im Kapitel Etwas Persönliches schreibt Dostojewski:
"Mit Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewskij kam ich zum erstenmal im Jahre 1859, bald nach meiner Rückkehr aus Sibirien, zusammen. Später trafen wir uns, doch nicht zu oft, und sprachen miteinander, doch nicht zu viel. Wir reichten uns übrigens bei jeder Begegnung die Hand. Herzen sagte mir, dass Tschernyschewskij auf ihn einen unangenehmen Eindruck gemacht habe, das heißt mit seinem Äußeren und seiner Art. Mir aber gefielen das Äußere und die Art Tschernyschewskijs recht gut.“
Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers Bd. 1 Musarion Verlag 1921 S. 44
N. Nekrassow, N. Tschernyschewski und N. Dobroljubow - Redakteure des Sowreminnik - Gemälde von Valentin Kuzmichyova
Tschernyschewski und Doroljubow übernahmen das Puschkinbild Belinskis, das Puschkin als ersten großen Wortkünstler der modernen russischen Literatursprache sieht, ihm aber die Größe eines Shakespeare oder Goethe versagt.
Vgl. Rothe, Hans; Dostoevskij und die Literatur S. 76
Tschernyschewski schreitet gewissermaßen in den Fußstapfen Belinskis fort.
Dostojewski wird dies kaum recht gewesen sein.
Dostojewski berichtet in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers" (1873), dass er im Mai 1862 selber Tschernyschewski aufgesucht und ihn inständig gebeten habe, seinen Einfluss auf die Verfasser der Proklamation „An die junge Generation" geltend zu machen.
„Ich hatte den Eindruck, dass mein Besuch ihm nicht unangenehm war; nach einigen Tagen bestätigte er dies durch seinen Gegenbesuch. Er blieb bei mir beinahe eine Stunde, und ich muss gestehen, dass ich selten einen weichherzigeren und freundlicheren Menschen gesehen habe, so dass mich einige Urteile über seinen Charakter, der roh und verschlossen sein sollte, in Erstaunen versetzten.“
Dostojewski, Tagebuch eines Schriftstellers Bd. 1 Musarion Verlag 1921 S. 47
Es gab noch einige gegenseitige Besuche. Dostojewski musste nach Moskau und sah Tschernyschewski nie wieder oder hatte in nochmals irgendeiner Form Kontakt zu ihm. Tschernyschewskis ideologisches Vermächtnis blieb für Dostojewski jedoch zeitlebens Gegenstand polemischer Betrachtungen.
Nach Studentenunruhen und den berüchtigten Feuersbrünsten in Petersburg wurde Tschernyschewski am 12. Juni 1862 verhaftet.
Im selben Monat reist Dostojewski nach Europa. Neben weiteren persönlichen Umständen, befürchtet Dostojewski auf Grund der aufgeheizten nervösen Stimmung einen „Rückgriff“ der Dritten Abteilung auf seine Person.
Tschernyschewski schrieb in der Untersuchungshaft, auf der Peter Pauls Festung, eine anschauliche Vorführung der Ideen die er propagierte - den Roman `Was tun?`
Der Roman erschien 1863 und „wurde im Handumdrehen zur Bibel der damaligen Radikalen“.
Kjetsaa, Geir; Dostojewski Heyne
„Tschernyschewskij war kein Künstler, legte auch keinen Wert darauf, als solcher zu gelten; literarisch gesehen, ist sein Roman eine typische Dilettantenarbeit.“
Braun, Dostojewskij S. 98
Eigentlich ein recht einfach strukturierter und formulierter Roman, entwickelte er dennoch nach seinem Erscheinen eine enorme Breitenwirkung. Er hatte großen Einfluss auf die russische Intelligenzia, die ihn lebhaft und kontrovers diskutierte. Viele Werke Dostojewskis zeigen deutliche Spuren der Auseinandersetzung mit dieser Arbeit.
Bereits im selben Jahr teilt Dostojewski seinem Bruder Überlegungen für den Leitartikel der Erstausgabe der „Epocha“ (sie sollte zuerst Prawda, die Wahrheit, heißen) mit:
„Eine Analyse der Romane Tschernyschweskis (Was tun?) und Pissemskis (Ein aufgewühltes Meer) könnte eine große Wirkung erzielen und entspräche vor allen Dingen unserem Anliegen. Zwei entgegengesetzte Ideen, und beide kriegen eins auf die Nase. Also haben wir recht.“
Dostojewski an seinen Bruder Michael aus Moskau (November 1863)
Briefe Insel Bd. 1 S. 268
Sieht man hier noch die Auseinandersetzung mit Tschernyschewskis `Was tun` eher strategisch ausgerichtet und motiviert, ändert sich dies mit seinen „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ erheblich.
„Dostojewski verfasste 1864 seine `Aufzeichnungen aus dem Untergrund`. Er forderte die Abkopplung des menschlichen Verhaltens von einem utilitaristischen Kosten-Nutzen-Kalkül und trat für die Respektierung des individuellen Willens ein. Dostojewski protestierte mit diesem Text gegen Nikolai Tschernyschewski. Der hatte behauptet, sogar der Altruismus beruhe auf einer egoistischen Kosten-Nutzen-Optimierung: Wenn ich nämlich anderen Gutes tue, so vermehre ich gewissermaßen mein emotionales Kapital. Dostojewski wandte sich erbost gegen diese Reduktion des Menschen auf einen Apparat, der sein Verhalten stets nach Soll und Haben kalkuliert."
Ulrich M. Schmid; Dostojewski und das Anreizsystem
Russische Ausgabe des Buches "Was tun?"
„Als dominierendes Symbol für die von den Progressisten erträumte perfekte Gesellschaft benutzt der Untergrundmensch den berühmten `Kristallpalast` der Londoner Weltausstellung von 1851; dieses Symbol findet sich auch in Tschernyschewskijs Roman. Der Grundgedanke der Polemik ist, dass ein solches Idealgebäude aus psychologischen Gründen niemals realisiert werden könne.“
Braun, Dostojewskij S. 99
„Vielleicht liebt es der Mensch nur Gebäude zu errichten, nicht aber darin zu leben.“
Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Untergrund
„Mit dieser Metapher sollte wohl angedeutet werden, dass die Erfinder künftiger idealer Gesellschaftsformen SELBER nicht so würden leben wollen, wie es ihre eigenen Regeln verlangen.“
Braun, Dostojewskij S. 100
"Dostojewskis Untergrundmensch vermerkt mit ätzendem Spott die Diskrepanz zwischen der humanitären Zielsetzung und dem tatsächlichen Zustand der Welt. `Sehen Sie nur um sich. Blut fließt in Strömen und auf die fröhlichste Weise, als ob`s Champagner wäre . . .`"
Neuhäuser; Dostoevskijs Frühwerk S. 287
Tschernyschewski und Dostojewski setzten so eine Auseinandersetzung über die Chancen des Individuums bei der Veränderung der Gesellschaft in die Welt.
1865 erscheint Dostojewskis „Das Krokodil“ und wird mit Tschernyschewskis Inhaftierung in Verbindung gebracht.
Die Interpretation, dass in Ivan Matwejitsch eine Karikatur des 1862 verhafteten Tschernyschewskis zu sehen sei, der im Gefängnis, sozusagen im Bauch des Krokodils, seinen utopisch-sozialistischen Roman `Was tun?` schrieb, bestritt Dostojewski in seinem "Tagebuch eines Schriftstellers" (1873 Kapitel „Etwas Persönliches“) recht heftig.
Vgl. Neuhäuser; Dostoevskijs Frühwerk S. 246
"Wenn Dostojewski überhaupt an ein konkretes Vorbild gedacht hat, dann wohl eher an den liberalen Autor Saltykow-Schtschedrin, der sich im Laufe der 60er Jahre den Radikalen anschloss und sich nach anfänglich freundschaftlichen Beziehungen zu Dostojewski in eine heftige Polemik mit ihm verwickelte.“
Ebenda S. 247
„Obwohl Tschernyschewski in den gesellschaftspolitischen und ästhetischen Debatten der Nachreformzeit zu den geistigen Antipoden Dostoevskijs gehörte, empört den Verfasser des `Tagebuch eines Schriftstellers` die Unterstellung, dass er, der `selbst ein Verbannter und Gefangener war`, habe sich `über die Verbannung eines anderen Unglücklichen gefreut`.“
Schulz, Christiane; Aspekte der Schillerschen Kunsttheorie im Literarturkonzept Dostoevskijs S. 148
„Dostoevskijs Verhältnis zu Tschernyschewski war auch keineswegs so eindeutig absprechend, dass eine echte Polemik genug gewesen wäre, er mag vielmehr zwiefältig gefühlt haben.“
Gerhardt, Dietrich, Gogol und Dostoevskij S. 27
„Trotz der verschiedenen ideologischen Positionen waren sie in Fragen der Gemeindegenossenschaft (Obschtschina), in der Beurteilung der realistischen Schule in der Literatur und der Menschen der 40iger Jahre gleicher Meinung.“
Briefe, Piper S. 700
Dostojewskis Notizbücher (1861 – 1863) beinhalten wohl Ausführungen, die Aufschlüsse zu seinem Verhältnis zu Tschernyschewski zulassen (Brodskij). Unter anderem habe Dostojewski die Persönlichkeit Tschernyschewskis als eine der intelligentesten und talentiertesten seiner Epoche verehrt (Melent`ev).
Vgl. Casper, Ein Schriftsteller im Dienst der Ideologie S. 121 & S. 306
„Während Tschernyschewski in `Was tun?` seine sozialistische Utopie als theoretisch-logisch fundierte Zukunftsvision einer intellektuellen Minderheit und revolutionären Führungselite entwickelt, entspricht die ethisch-ideologische Utopie bei Tolstoj und Dostoevskij einem volkstümlichen Ideal in seiner allgemeinsten und umfassendsten Ausprägung.“
Städtke Klaus; Studien zum russischen Realismus des 19. Jahrhunderts S. 129
VITA
Tschernyschewski wurde als Sohn eines Priesters Saratow geboren. Mit 14 Jahren beherrschte Tschernyschewski bereits fließend Französisch und Arabisch und beginnt Tatarisch zu erlernen. Er gilt als außerordentlich belesen.
1846 geht er nach Petersburg, um dort zu studieren. Nach Abschluss seines Studiums an der Universität in Petersburg lehrt er Literatur am Gymnasium seiner Heimatstadt. Sein unorthodoxer Lehrstil führt zu Verwerfungen zwischen dem Direktor und ihm. In Folge zieht er 1853 mit seiner Frau nach Sankt Petersburg und ist bald darauf Mitarbeiter von Nekrassows „Sowremennik“.
1962 wird er verhaftet und 1864, nach zwei Jahren Festungshaft, zu 14 Jahren Zwangsarbeit und zu darauffolgender lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien verurteilt.
„Am 14. Mai 1864 fand in Petersburg die `bürgerliche Hinrichtung` des Titular-Rates außer Diensten statt. Dem Verurteilten wurde ein Schild mit der Inschrift `Staatsverbrecher` umgehängt, anschließend wurde er auf einem Schafott symbolisch in Ketten gelegt und in die Knie gezwungen. Über seinem Haupt wurde ein Degen zerbrochen“, als Zeichen für den Entzug sämtlicher Eigentumsrechte. Danach musste er stundenlang an einen Pfahl gekettet ausharren.
Das Publikum, größtenteils seine Freunde und Anhänger, warf Blumen auf das Schafott und brach in Hochrufe aus. Dann transportierte man ihn nach Sibirien ab.
Schmiedling; Aufstand der Töchter S. 53
Entwürdigendes Procedere für Tschernyschewski
Sieben Jahre arbeitete er in den Bergewerken von Nertschinsk, anschließend auf Lebenszeit verbannt. Im Jahr 1874 legte man ihm nahe seine Begnadigung zu beantragen, was er ablehnte. Verschiedene Befreiungsversuche scheitern. 1883 darf er Sibirien verlassen.
1889 stirbt er in seiner Geburtsstadt Saratow.