Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke
"Sein Blick ist vorgeprägt vom Fazit: Russland kann von Europa nichts lernen."
Gerigk; Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller S. 53
Veröffentlichung
1863 erstmalig in der Zeitschrift „Die Zeit“ (Wremja)
Handlung
Dostoevskijs "Reisebeschreibungen" seiner ersten Europareise - faktisch eine ideologische Polemik gegen den Westen.
Anmerkungen
„Im Jahre 1862 unternimmt Dostojewskij vierzigjährig seine erste Reise ins Ausland, über die er in der Zeitschrift `Wremja` Februar und März 1863 einen Bericht unter dem Titel `Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke` veröffentlicht.“
Gerigk, Das Russland-Bild Dostojewskijs S. 69 In: Zeitperspektive - Studien zu Kultur und Gesellschaft
„Bittere Polemik mischt sich mit leichtestem Wortwitz. Die Argumentation ist ganz und gar in unbekümmertem Plauderton gehalten: parteiisch, vorschießend, scheinbar zurücknehmend, gezielt abschweifend und stets zutiefst literarisch. Angeredet ist der russische Zeitungsleser, der, durchaus gebildet, von den Tagesfragen und ihren Hintergründen weiß. Das chauvinistische Sentiment des `Tagebuch eines Schriftstellers` spricht sich bereits deutlich aus. Auch der Seitenhieb gegen Rom, das Dostojewskij nicht besuchte, fehlt nicht.
Das Hauptgewicht der Betrachtung liegt auf Frankreich und England. Gipfelpunkt visionärer Analyse ist das Bild eines von Baal beherrschten London: das ausgebeutete Proletariat sucht, im babylonischen Taumel, seine Rettung in Gin und Laster. (…)
Als Kennmarke für Frankreich fungiert der `Bourgeois`, der in vollkommener Erstarrung die ihm verbürgten Gewohnheiten auslebt.
Die innere Misere Westeuropas wird Dostojewskij zum Fingerzeig dafür, dass Russland nur in radikaler Rückbesinnung auf sein ureigenstes Erbe lebensfähig bleiben kann. Die Reisenotizen apostrophieren so, mit bereits scharfen Umrissen, ein durchgehendes Thema der nachfolgenden fünf großen Romane.“
Ebenda
„Dostoevskij entwickelt vier Themen, die miteinander thematisch verknüpft sind. Diese Themen werden in den einleitenden vier Kapiteln der Reihe nach eingeführt, wobei das vierte Thema sich erst im zentralen fünften Kapital `Baal` entfaltet. Die das Werk abschließenden drei Kapitel sind der Analyse des Bourgeois gewidmet.“
Neuhäuser, Das Frühwerk Dostoevskijs S. 225
„Dostoevskij prangert den `titanischen Stolz` des Europäers, der von `Starrheit und Blindheit` begleitet wird, als Wurzel allen Übels an. Dies steht im Einklang mit christlichen Anschauungen, nach denen schon Luzifer sich Gott aus Stolz entgegengestellt habe und deshalb gestürzt worden sei. Im Neuen Testament wird Stolz wiederum als Erzübel verurteilt.“
Ebenda S. 228