Symbiose




So stehen die beiden Romanciers also noch über ihren Tod hinaus im Gegensatz zueinander.
 


Tolstoj, der hervorragendste Erbe der Traditionen des Epischen;
Dostojewskij, eine der größten dramatischen Naturen nach Shakespeare;
 
Tolstoj, der von Vernunft und Faktischem berauschte Verstand;
Dostojewskij, der Verächter des Rationalismus, der große Liebhaber von Paradoxen;
 
Tolstoj, der Dichter des Landes, der ländlichen Szenerie und der pastoralen Stimmung; Dostojewskij, der Erz-Städter, der Baumeister der modernen Metropolis in der Provinz der Sprache;
 
Tolstoj, den es nach Wahrheit dürstete, der sich selbst und die Menschen seiner Umgebung in seiner übertriebenen Jagd nach der Wahrheit zerstörte;
Dostojewskij, der sich lieber gegen die Wahrheit als gegen Christus stellen wollte, der mißtrauisch gegen völliges Verstehen war und auf der Seite des Mysteriums stand;
 
Tolstoj der sich nach Coleridges Ausdruck „zu allen Zeiten auf der großen Straße des Lebens hielt“;
Dostojewskij, der in das Labyrinth des Unnatürlichen, in die Kellerräume und den Morast der Seele vordrang;
 

Tolstoj, der wie ein Koloß die ganze greifbare Erde umfing, die Wirklichkeit, die Tastbarkeit, die sinnenhafte Gesamtheit des konkreten Erlebens beschwor;
Dostojewskij, immer an der Grenze des Halluzinatorischen, des Spektralen, immer offen für dämonische Einbrüche in einen Zustand, der sich am Ende als nicht mehr denn ein Gewebe von Träumen erweisen könnte;
 
Tolstoj, die Verkörperung von Gesundheit und olympischer Vitalität;
Dostojewskij, die Summe von Energien, beladen mit Krankheit und Besessenheit;
 
Tolstoj, der die Schicksale der Menschen historisch und im Strom der Zeit sah;
Dostojewskij, der sie im Jetzt und in der vibrierenden Stasis des dramatischen Moments erblickte;
 
Tolstoj, zu Grabe getragen in der ersten nicht-kirchlichen Beerdigung, die es je in Rußland gab;
Dostojewskij, auf dem Friedhof des Alexander-Newskij-Klosters in St. Petersburg unter den feierlichen Riten der orthodoxen Kirche zur Ruhe gebettet;
 
Alle Zitate
Steiner, George; Tolstoij oder Dostojewskij - Analyse des abendländischen Romans,  Albert Langen-Georg Müller Verlag 1964  S. 289