Eine der modernen Unterstellungen




Erlauben Sie, meine Herrschaften (ich spreche jetzt im Allgemeinen, nicht nur zu dem einen Mitarbeiter der »Russischen Welt«), – Sie behaupten, auf der Basis der »Verneinung der Tatsache«, dass die »Netschajeffs« unbedingt Idioten, »idiotische Fanatiker« sein müssen. Stimmt das nun wieder? Ist das gerecht? Ich lasse nunmehr Netschajeff selbst ganz aus dem Spiel und spreche von den »Netschajeffs«, im Plural. Ja, unter den Netschajeffs kann es überaus finstere, überaus unerfreuliche und entartete Geschöpfe geben, mit einer – hinsichtlich des Ursprungs sehr komplizierten, vielfach zusammengesetzten – großen Lust an Intrigen, mit Machtgier, mit einem leidenschaftlichen und krankhaft frühen Bedürfnis, sich als Persönlichkeit zu zeigen, aber – warum sollen sie deshalb »Idioten« sein? Im Gegenteil, sogar richtige Monstra unter ihnen können geistig sehr entwickelte, äußerst schlaue und auch gebildete Menschen sein. Oder glauben Sie, das bestandene Examen, das Schulwissen, (ja selbst Universitätswissen) forme die Seele des Jünglings schon so endgültig, dass er mit dem Empfang des Diploms zugleich und für immer einen unerschütterlichen Talisman erhält, der ihn die Wahrheit sofort unfehlbar erkennen läßt und vor allen Versuchungen, Leidenschaften und Lastern schützt? Somit würden ja Ihrer Meinung nach alle diese Jünglinge mit dem bestandenen Schlussexamen zu einer Art unzähliger kleiner Päpste werden, die allesamt unfehlbar sind.
 
 
Und warum nehmen Sie an, dass die Netschajeffs unbedingt Fanatiker seien? Sehr oft sind das einfach Spitzbuben. »Ich bin ein Spitzbube, aber kein Sozialist,« sagt ein Netschajeff allerdings nur bei mir, in meinem Roman, aber ich versichere Ihnen, dass er das ebensogut in der Wirklichkeit sagen könnte. Es sind das Spitzbuben von großer Schlauheit, die gerade die großmütige Seite der Menschenseele, am häufigsten der jungen Seele, studiert haben, um dann auf ihr wie auf einem Musikinstrument zu spielen. Ja glauben Sie denn im Ernste, dass die Proselyten, die irgendein Netschajeff bei uns machen könnte, unbedingt ausnahmslos Faulenzer und Nichtstuer sein müssen? Ich glaube das nicht; nicht alle würden das sein; ich bin selbst ein alter »Netschajewze«, ich stand gleichfalls auf dem Schafott, zum Tode verurteilt, und ich versichere Ihnen, dass ich in einem Kreise von gebildeten Menschen dort stand. Die Angehörigen dieses Kreises hatten fast alle die ersten Hochschulen beendet. Einige von ihnen haben sich später, _als alles das schon der Vergangenheit angehörte_, durch besondere Spezialkenntnisse, durch Werke hervorgetan. Nein, mit Verlaub, die Netschajewzen rekrutieren sich nicht immer nur aus Faulenzern, die überhaupt nichts gelernt haben.
 
Ich weiß, Sie werden mir nun zweifellos entgegenhalten, dass ich ja gar nicht ein Netschajewze, sondern bloß ein »Petraschewze« sei. Gut, meinetwegen ein Petraschewze (obschon diese Bezeichnung meiner Ansicht nach unrichtig ist, denn eine unverhältnismäßig größere Anzahl von genau solchen Petraschewzen wie wir blieb vollkommen unbehelligt und unberührt. Es ist wahr, sie haben Petraschewski selbst nie gekannt, aber auf Petraschewski kam es ja in dieser ganzen längstvergangenen Geschichte gar nicht an – nur das wollte ich hiermit bemerkt haben).
 
Doch gut, mag ich nur einer von den Petraschewzen gewesen sein. Aber woher wissen Sie denn, ob die Petraschewzen nicht Netschajewzen hätten werden können, d. h. ob sie nicht auch auf den »Netschajewschen« Weg hätten geraten können, _im Falle die Sache die Wendung genommen hatte? Natürlich, damals wäre es ganz unmöglich gewesen, sich auch nur vorzustellen, wie sich die Sache so hätte wenden können? Es waren ja ganz andere Zeiten. Doch erlauben Sie mir, von mir einzelnem zu sagen: ein _Netschajeff_ hätte ich wahrscheinlich niemals werden können, aber ein Netschajewze – dafür verbürge ich mich nicht, vielleicht hätte ich das auch gekonnt... in den Tagen meiner Jugend.
 
Ich habe hier von mir gesprochen, um das Recht zu haben, von anderen zu sprechen. Trotzdem werde ich von mir allein fortfahren, von den anderen dagegen werde ich, wenn ich sie einmal erwähne, nur im allgemeinen sprechen, also ganz unpersönlich und nur im abstrakten Sinne. Der _Prozess_ aber der Petraschewzen, – das ist doch eine so längstvergangene Sache und gehört einer so uralten Zeit an, dass wohl kein Unglück daraus entstehen kann, wenn ich auf ihn zu sprechen komme, um so weniger, als ich ihn ja nur streife und ganz abstrakt davon rede.
 
»Ungeheuer« und »Spitzbuben« gab es unter uns, den »Petraschewzen«, nicht einen weder unter denen, die auf dem Schafott standen, noch unter den anderen, die unbehelligt blieben. Ich glaube nicht, dass sich jemand finden wird, der diese meine Erklärung zu widerlegen versuchen wollte. Dass viele von uns, wie ich schon bemerkte, gebildete Menschen waren, das wird wohl auch niemand bestreiten. Doch mit dem bekannten Zyklus von Ideen und Begriffen, die sich damals in der jungen Gesellschaft stark verwurzelt hatten, den Kampf aufzunehmen, dazu war von uns zweifellos kaum jemand imstande. Wir waren mit den Ideen des damaligen theoretischen Sozialismus infiziert. Den politischen Sozialismus gab es damals noch nicht in Europa und die europäischen Führer der Sozialisten verwarfen ihn sogar.
 
Louis Blanc ist von seinen Kollegen in der Nationalversammlung, den Abgeordneten der Rechten, ganz unrechterweise geohrfeigt und an den Haaren gezerrt worden (an Haaren, die, wie dazu vorherbestimmt, lang, schwarz und üppig waren), bis ihn Arago (der Astronom, damals Mitglied der Regierung, jetzt schon lange tot) aus den Fängen der anderen herausriß, – an jenem unseligen Vormittage im Mai 1848, als eine Horde ungeduldiger und hungriger Arbeiter in den Sitzungssaal hereinbrach. Der arme Louis Blanc, der eine zeitlang Mitglied der zeitweiligen Regierung war, hatte diese Horde ja gar nicht dazu aufgehetzt: er hatte doch nur im Luxemburg-Palais diesen bedauernswerten und hungrigen Menschen, die infolge der Revolution und Ausrufung der Republik plötzlich arbeitslos geworden waren, einen Vortrag über ihr »Recht auf Arbeit« gehalten. Freilich, da er immerhin Mitglied der Regierung war, so waren seine Vorträge in gewissem Sinne schrecklich unpolitisch und – versteht sich – auch lächerlich. Die Zeitschrift von Considérant aber, wie die Artikel und Broschüren von Proudhon hatten sich doch zur Aufgabe gemacht, in eben diesen hungrigen und überhaupt nichts besitzenden Arbeitern unter anderem auch einen tiefen Ekel vor dem Erbschaftsrecht zu verbreiten. Zweifellos ist aus alledem (d. h. aus der Ungeduld der hungrigen Menschen, die mit den Theorien einer zukünftigen Seligkeit geschürt und entfacht wurden) in der Folge der politische Sozialismus hervorgegangen, dessen Wesen, trotz aller verkündeten Ziele, vorläufig nur in dem Wunsch der besitzlosen Klassen besteht, die Besitzer allerorts zu plündern, und dann: »mag kommen was kommt«. (Denn in Wirklichkeit ist doch bis heute noch nicht festgestellt, was nun in der zukünftigen Gesellschaft der Ersatz sein wird, sondern beschlossen ist einzig dies: dass das Gegenwärtige einstürzen muss, – und das ist bisher die ganze Formel des politischen Sozialismus).
 
Doch damals wurde die Sache noch in rosigstem und paradiesisch sittlichem Lichte aufgefasst. Es ist wirklich wahr, dass der keimende Sozialismus damals sogar von manchen seiner Führer mit dem Christentum verglichen und nur für eine der Zeit und Zivilisation entsprechende Verbesserung und Vervollkommnung desselben gehalten wurde. Alle diese damaligen neuen Ideen gefielen uns in Petersburg ungeheuer, erschienen uns als im höchsten Grade heilig und sittlich und vor allem allgemeinmenschlich, erschienen uns als das zukünftige Gesetz der ganzen Menschheit ohne eine Ausnahme. Wir waren schon lange vor der Pariser Revolution im Jahre 48 dem berauschenden Einfluss dieser Ideen verfallen. Schon im Jahre 1846 war ich in die ganze _Wahrheit_ dieser kommenden »Welterneuerung« und in die ganze _Heiligkeit_ der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft noch von Bjelinski eingeweiht worden. Alle diese Überzeugungen von der Unsittlichkeit schon der Grundlagen (der christlichen Grundlagen) der gegenwärtigen Gesellschaft, von der Unsittlichkeit der Religion, der Familie; von der Unsittlichkeit des Besitzrechts; alle diese Ideen von einer Aufhebung der Nationalitäten im Namen einer allgemeinen Brüderlichkeit der Menschen, von der Verachtung für das Vaterland als den Hemmschuh in der allgemeinen Entwicklung, usw. usw., alles das waren, wie gesagt, solche Einflüsse, die wir nicht bewältigen konnten, ja die, im Gegenteil, unsere Herzen und Gehirne im Namen einer gewissen Großmut erfassten. Jedenfalls: der Grundgedanke nahm sich erhaben aus und stand, wie es schien, hoch über dem Niveau der damals herrschenden Begriffe. Und gerade das war es, was verführte. Diejenigen von uns, d. h. nicht nur von uns Petraschewzen, sondern von allen damals Angesteckten, die jedoch in der Folge diese ganze verschwärmte Schädlichkeit radikal ablehnten, diese ganze Finsternis und dies Entsetzen, das da für die Menschheit als ihre Erneuerung und Auferstehung vorbereitet wurde, – die von uns kannten damals noch nicht die Ursachen ihrer Krankheit, und deshalb konnten sie auch noch nicht mit ihr kämpfen. Also woraufhin glauben Sie denn, dass wir – wenn auch natürlich nicht alle, so doch wenigstens manche von uns – vor einer Tat wie meinetwegen selbst ein Mord à la Netschajeff zurückgeschreckt wären? – in jener glühenden Zeit, inmitten der Lehren, die die Seele ergriffen, und der erschütternden europäischen Ereignisse, die wir, während wir das Vaterland ganz vergaßen, mit fieberhafter Spannung verfolgten?
 
 
Die ungeheuerliche und widerliche Ermordung des Studenten Iwanoff ist von dem Mörder Netschajeff seinen Opfern, den »Netschajewzen«, ganz zweifellos als politische und für die zukünftige »allgemeine und große Sache« notwendige Tat hingestellt worden. Anderenfalls wäre es ja nicht zu verstehen, wie eine Anzahl Jünglinge (gleichviel wer sie waren), sich zu einem so finsteren Verbrechen bereitfinden konnten. In meinem Roman »Die Dämonen« habe ich unter anderem auch versucht, jene vielfältigen und verschiedenartigen Beweggründe darzulegen, mit Hilfe welcher sogar die treuherzigsten und lautersten Menschen zur Ausführung eines ebenso ungeheuerlichen Verbrechens herangezogen werden können. Und gerade darin liegt ja das Entsetzen, dass man bei uns die schändlichste und abscheulichste Tat begehen kann, manchmal ohne überhaupt ein schändlicher Mensch zu sein! Das ist nicht nur bei uns so, sondern ist in Übergangszeiten in der ganzen Welt so, immer und seit Jahrtausenden, – in Zeiten der Erschütterungen im Leben der Menschen, in Zeiten der Zweifel und Verneinungen, der Skepsis und des Schwankens in den grundlegenden gesellschaftlichen Überzeugungen. Aber bei uns ist das noch mehr als sonstwo möglich, und zwar gerade heutigestags, und dieser Zug ist der krankeste und traurigste Zug unserer gegenwärtigen Zeit. In der Möglichkeit, sich selbst nicht für einen schändlichen Menschen zu halten und manchmal sogar fast wirklich kein schändlicher Mensch zu sein, während man gleichzeitig eine ganz offenbare, unbestreitbare Schändlichkeit begeht – sehen Sie, darin besteht unser gegenwärtiges Unglück!
 
Wodurch ist denn die Jugend im Vergleich mit den anderen Altersstufen so besonders geschützt oder gesichert, dass Sie, meine Herren Verteidiger der Jugend, von ihr, kaum dass sie gearbeitet und fleißig gelernt hat, schon gleich eine Festigkeit und eine Reife der Überzeugungen verlangen dürfen, wie sie ja nicht einmal die Väter dieser Jünglinge gehabt haben, jetzt aber noch weniger haben als je zuvor? Unsere jungen Menschen aus unseren intelligenten Ständen, die in ihren Familien herangewachsen sind, in denen man jetzt am häufigsten Unzufriedenheit, Ungeduld und die gröbste Unwissenheit findet (ungeachtet der Zugehörigkeit dieser Klassen zur Intelligenz) und wo fast allenthalben die wirkliche Bildung nur durch nachgeplapperte freche Verneinung aufs Geratewohl ersetzt wird; wo die materiellen Beweggründe die Oberherrschaft über jede höhere Idee haben; wo die Kinder ohne Basis außerhalb der natürlichen Wahrheit erzogen werden, in Nichtachtung oder Gleichgültigkeit zum Vaterlands und in dieser spottenden Verachtung des Volkes, die sich in der letzten Zeit so besonders verbreitet hat, – ist das nun der Brunnen, aus dem unsere jungen Menschen die Wahrheit und Fehlerlosigkeit der Richtung ihrer ersten Schritte im Leben schöpfen könnten? Sehen Sie, hier liegt der Anfang des Übels: in der Überlieferung, in der Vererbung der Ideen, in der Jahrhunderte alten, nationalen Unterdrückung jedes unabhängigen Gedankens, in der Vorstellung von dem hohen Rang des Europäers unter der unerlässlichen Bedingung der Nichtachtung für sich selbst als russischen Menschen!
 
 
Doch Sie werden diesen gar zu allgemeinen Hinweisen wahrscheinlich keinen Glauben schenken. »Bildung«, wiederholen Sie immer wieder, »Fleiß«; und Sie bleiben bei Ihrer Phrase von den müßigen »Unreifen«. Beachten Sie Wohl, meine Herren, dass diese unsere höheren europäischen Lehrer, diese unsere Hoffnung und unser Licht, alle diese Mill, Darwin und Strauß, mitunter eine höchst wunderliche Auffassung von den sittlichen Pflichten des Menschen unserer Zeit haben. Und dabei sind das doch schon wirklich keine Faulenzer, die nichts gelernt haben, und keine ungezogenen Kinder, die mit den Beinen unterm Tisch schlenkern. Sie werden nun auflachen und mich fragen: warum es mir denn einfällt, gerade diese Namen anzuführen? Ganz einfach, weil, wenn man von unserer Jugend spricht, von der intelligenten, glühenden und lernenden Jugend, die Vorstellung fast undenkbar ist, dass diese Namen ihr nicht schon bei den ersten Schritten ins Leben begegnet sein könnten. Kann denn der russische Jüngling dem Einfluss dieser Führer des europäischen fortschrittlichen Gedankens, sowie dem Einfluss anderer, ihnen ähnlicher Führer, und besonders der russischen Seite ihrer Lehren gegenüber gleichgültig bleiben? Diesen komischen Ausdruck von der »russischen Seite ihrer Lehren« verzeihe man mir schon deshalb, weil es diese russische Seite dieser Lehren tatsächlich gibt. Sie besteht aus jenen Schlussfolgerungen in Gestalt unerschütterlicher Axiome, wie sie nur in Russland gezogen werden; in Europa dagegen wird selbst die Möglichkeit solcher Schlussfolgerungen, wie man hört, nicht einmal für möglich gehalten. Man wird mir nun vielleicht sagen, dass diese Herrschaften keineswegs Böses lehren; dass, wenn z. B. Strauß Christus auch hasst und die Verspottung und Bespeiung des Christentums sich auch zum Lebensziel gesetzt hat, er doch gleichzeitig die Menschheit im Ganzen vergöttert, und dass seine Lehre so erhaben und edel ist, wie nur denkbar. Es ist sehr gut möglich, dass alles das sich wirklich so verhält, und dass die Ziele aller gegenwärtigen Führer des europäischen fortschrittlichen Gedankens menschenfreundlich und großartig sind. Doch dafür scheint mir folgendes unzweifelhaft zu sein: dass, wenn man allen diesen gegenwärtigen höheren Lehrern die volle Möglichkeit gäbe, die alte Gesellschaft zu zerstören und eine neue aufzubauen, – eine solche Finsternis entstünde, ein solches Chaos, etwas dermaßen Rohes, Blindes und Unmenschliches, dass das ganze Gebäude unter den Flüchen der Menschen zusammenbrechen würde, noch bevor es vollendet ist. Wenn der Menschenverstand erst einmal Christus verworfen hat, kann er zu erstaunlichen Resultaten kommen. Das ist ein Axiom. Europa lehnt, – wenigstens in den höheren Vertretern seines Gedankens, – Christus ab, wir aber sind bekanntlich verpflichtet, Europa nachzuahmen.
 
Es gibt im Leben der Menschen historische Momente, wo ein unzweifelhaftes, freches, rohestes Verbrechen nur für Seelengröße gelten kann, nur für edle Mannhaftigkeit der Menschheit, die sich aus den Ketten reißt. Bedarf es hierzu wirklich noch der Anführung von Beispielen, gibt es deren nicht Tausende, nicht Zehn-, nicht Hunderttausende? Das ist natürlich ein verzwicktes und unbegrenzbares Thema und in einem Feuilletonartikel ist es sehr schwer, darauf einzugehen, aber immerhin kann man, als Resultat, denke ich, auch meine Annahme zulassen: dass sogar ein ehrlicher, auch ein treuherziger Junge, sogar ein gut lernender, sich mitunter in einen Netschajewzen verwandeln kann ... selbstverständlich: wenn er auf einen Netschajeff stößt; das ist schon sine qua non ...
 
Wir, wir Petraschewzen, standen auf dem Schafott und hörten die Verlesung unserer Verurteilung ohne die geringste Reue an. Selbstverständlich kann ich mich nicht für alle verbürgen; aber ich glaube, dass ich mich nicht irre, wenn ich sage, dass damals, in jenen Minuten, wenn auch nicht alle ohne Ausnahme, so doch mindestens die übergroße Mehrzahl von uns es für eine Ehrlosigkeit gehalten hätte, sich von ihren Überzeugungen loszusagen. Dieser ganze Prozeß gehört nun schon einer alten Vergangenheit an und darum ist es vielleicht schon gestattet, zu fragen: waren dieser Starrsinn und diese Reuelosigkeit wirklich nur die Anzeichen schlechter Naturen, waren sie das Kennzeichen unreifer Raufbolde? Nein, wir waren keine Raufbolde, ja vielleicht waren wir nicht einmal schlechte junge Menschen. Die Verlesung des Urteils, das auf Tod durch Erschießen lautete, erfolgte durchaus nicht wie zum Scherz, sondern in allem Ernst; fast alle Verurteilten waren überzeugt, dass das Urteil unfehlbar vollstreckt werden würde und ertrugen mindestens zehn furchtbare, maßlos schreckliche Minuten der Erwartung des Todes. In diesen letzten Minuten haben manche von uns (ich weiß das bestimmt), indem sie sich instinktiv in sich selbst versenkten und in einem Augenblick ihr ganzes noch so junges Leben durchprüften, – vielleicht auch manch ein schweres Vergehen bereut (eines von jenen, die jeder Mensch sein ganzes Leben lang im geheimen auf seinem Gewissen liegen hat); aber die Angelegenheit, für die man uns verurteilte, die Gedanken, die Begriffe, die unseren Geist beherrschten, – die erschienen uns nicht nur nicht reueheischend, sondern geradezu als etwas uns Läuterndes, als ein Märtyrertum, für das uns vieles vergeben werden würde! Und das blieb so für eine lange Zeit. Weder Jahre der Verbannung, noch Leiden brachen uns. Im Gegenteil, nichts brach uns, und unsere Überzeugungen taten nur dies, dass sie unseren Geist durch das Bewusstsein der erfüllten Pflicht aufrechterhielten. Nein, es war etwas anderes, was unseren Blick, unsere Ansichten, Überzeugungen und Herzen änderte (ich erlaube mir natürlich nur von jenen aus unserer Schar zusprechen, von denen die Tatsache, dass sie ihre Überzeugungen geändert haben, bereits bekannt und in der einen oder anderen Form auch schon von ihnen selbst bestätigt ist). Dieses andere war: die unmittelbare Berührung mit dem Volke, die brüderliche Vereinigung mit ihm im gemeinsamen Unglück, die Einsicht, dass man selbst zu Volk geworden, mit ihm gleichgestellt, ja sogar auf seine niederste Stufe hinabgedrückt war.
 
 
Ich sage nochmals, diese Änderung vollzog sich nicht so schnell, sondern ganz allmählich und erst nach sehr, sehr langer Zeit. Es war nicht Stolz, nicht Eigenliebe, was dem Eingeständnis im Wege stand. Und dabei war ich vielleicht einer von jenen (ich spreche nun wieder von mir allein), denen die Rückkehr zur Volkswurzel, zum Erkennen der russischen Seele, zur Anerkennung des Volksgeistes von Hause aus am meisten erleichtert war. Ich stammte aus einer Familie, die russisch und gottesfürchtig war. Soweit ich überhaupt zurückdenken kann, erinnere ich mich der Liebe meiner Eltern zu mir. Mit dem Evangelium waren wir in unserer Familie bereits seit der frühesten Kindheit vertraut. Schon mit zehn Jahren kannte ich alle wichtigeren Geschehnisse der russischen Geschichte nach dem Werk Karamsins, aus dem uns der Vater abends vorlas. Der Besuch des Kremls und der alten Moskauer Kirchen war für mich stets etwas Feierliches gewesen. Vielleicht hatten die anderen Petraschewzen keine Erinnerungen solcher Art, wie ich sie hatte. Ich denke jetzt sehr oft darüber nach und frage mich: was für Eindrücke mag die heutige Jugend in der Mehrzahl aus ihrer Kindheit ins Leben mitnehmen? Und nun, wenn es sogar mir, der ich schon auf ganz natürliche Weise über jene verhängnisvolle neue Umgebung, in die das Unglück uns hineingeschleudert hatte, nicht hochmütig hinwegsehen konnte, wenn es sogar mir, der ich mich zu der Offenbarung des Volksgeistes vor meinen Augen nicht herablassend Verhalten oder sie nur mit einem flüchtigen Blick streifen konnte, – wenn es also auch mir, sage ich, so schwer war, mich schließlich von der Lüge und Unwahrheit fast alles dessen, was wir zu Hause für Licht und Wahrheit gehalten hatten, zu überzeugen, so frage ich mich: wie schwer muß es dann erst den anderen gefallen sein, allen denen, die viel tiefer dem Volk entfremdet waren, die aus Familien stammten, in denen die Entzweiung mit dem Volk ererbt war und schon von den Vätern und Großvätern übernommen wurde?
 
Es würde mir sehr schwer fallen, die Geschichte der Wandlung meiner Überzeugungen zu erzählen, umso mehr, als sie vielleicht auch gar nicht so interessant ist; und überdies passt es auch irgendwie nicht zu einem Feuilletonartikel ...
 
 
Meine Herren Verteidiger unserer Jugend, prüfen Sie doch schließlich auch das Milieu, prüfen Sie die Gesellschaft, in der diese Jugend aufwächst, und fragen Sie sich dann: gibt es in unserer Zeit überhaupt etwas, das gegen gewisse Einflüsse noch weniger geschützt ist, als diese Jugend?
 
Stellen Sie zunächst die Frage: wenn selbst die Väter dieser Jünglinge in ihren Überzeugungen nicht besser, nicht fester, nicht gesünder sind; wenn diese Kinder in ihren Familien schon von kleinauf nur Zynismus und hochmütige, gleichgültige (meistenteils gleichgültige) Verneinung erlebt haben; wenn das Wort Vaterland vor ihnen nie anders als mit einem spöttischen Zug um den Mund ausgesprochen worden ist; wenn alle, die sie erzogen, sich zu der Sache Rußlands nur mit Verachtung oder Gleichgültigkeit verhalten haben; wenn die großmütigsten unter ihren Vätern und Erziehern ihnen immer nur »allgemeinmenschliche« Ideen gepredigt haben; wenn schon ihre Kinderwärterinnen davongejagt wurden, weil sie an ihren Wiegen trotz des Verbots das Gebet an die Gottesmutter sprachen, – so sagen Sie doch: was kann man danach von diesen Kindern verlangen, und ist es dann noch human, bei einer Verteidigung der Jugend, wenn sie einer solchen bedarf, das Ganze für sich selbst mit einfacher Leugnung der Tatsache abzutun?
 
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Quelle: "Tagebuch eines Schriftstellers" bzw. "Staatsbürger" (Graschdanin) 1873 Nr. 50