Ivan Jastraschemskis Erinnerungen (Auszug)


Wir kamen nach Tobolsk... und wurden im Ostrogg in einen großen Raum geführt, von wo aus die weitere Verteilung der Gruppen erfolgte. In diesem Raum waren an die dreihundert Männer, Frauen und Kinder von jedem Alter und von allen Rassen; die einen wurden in Ketten geschmiedet, andere an einer eisernen Stange aufgereiht, den dritten wurde das Haar vom Schädel bis zur Haut abrasiert. Dieses ganze Schaustück machte auf mich einen erschütternden Eindruck. Wir wurden dem Aufseher des Gefängnisses übergeben... Wir waren die ganze Nacht und einen Teil des Tages bei 40° Kälte gefahren, da war es wohl erklärlich, daß ich mir unsere Ankunft in Tobolsk in Verbindung mit der Vorstellung von irgendeiner warmen Unterkunft und heißem Tee gedacht hatte. Doch auf meine Frage, ob wir einen Ssamowar bekommen könnten, antwortete Iwan Gawrilowitsch (der Aufseher) mit der Gegenfrage: ›Wie denken Sie denn die Etappenreise durch Sibirien fortzusetzen? Wir haben keinen Ssamowar.‹ Diese Worte eröffneten mir die Perspektive der Weiterreise zu Fuß vielleicht über Tausende von Werst. Und mir fiel das soeben gesehene Bild der Vorbereitung zum Weitermarsch der Gruppen ein.
(. . .)

Wir kamen in die Gefängniskanzlei... einen dunklen, schmutzigen Raum, wo mir als erstes die Beamten` auffielen, die hier das schriftliche erledigten. Diese Individuen staken in kamelhaarenen Sträflingsröcken; die einen waren als Schwerverbrecher auf Stirn und Wangen mit den eingebrannten Buchstaben K. A. T. gestempelt, andere, denen man zur Kennzeichnung auch noch die Nüstern herausgeschnitten hatte, mit den Buchstaben W. O. R.. Physiognomien à l'avenant...

Tobolsk 1880  © Moverton / russisch Wikipedia

Iwan Gawrilowitsch kam auf uns zu. „In Ketten?“ fragte er barsch. „Jawohl,“ antworteten wir. „Durchsuchen!“ kommandierte er. Und wir wurden einer Durchsuchung unterzogen, daß uns vor Scham und Empörung das Blut zu Kopfe stieg... Hierauf wurden wir in eine Kammer geführt, in einen schmalen, dunklen, kalten, schmutzigen Raum... In diesem Raum war eine Pritsche, auf der drei schmutzige, mit Heu gefüllte Säcke lagen und drei ebensolche Kopfkissen, sonst nichts. Vollkommene Finsternis. Hinter der Tür, im Flur, die schweren Schritte des Postens, der hin und her schritt – in einer Kälte von vierzig Grad.
Wir setzten uns und kauerten uns zusammen – Durow auf der Pritsche, ich neben Dostojewski auf dem Fußboden. Hinter der dünnen Wand, oder fast war es nur ein Bretterverschlag, wo, wie wir später erfuhren, Untersuchungsgefangene untergebracht waren, hörte man das Aufschlagen der kleinen Krüge und Gefäße, aus denen sie Schnaps tranken, dazu die Ausrufe der Karten- und Würfelspieler und ein solches Geschimpfe, solche Flüche. (. . .)

Durows Finger und Zehen waren erfroren. Bei Dostojewski hatten sich schon in der Peter-Pauls-Festung skrophulöse Wunden im Gesicht und im Munde gebildet. Und mir war die Nasenspitze erfroren.

Inmitten dieser Umgebung fiel mir mein früheres Leben ein, mein Leben in Petersburg, im Kreise junger, sympathischer, kluger Universitätskameraden ... Ich dachte, was wohl meine Schwester sagen würde, wenn sie mich hier sähe? Ich dachte, für mich gäbe es keine Rettung mehr, und beschloß, meinem Leben ein Ende zu machen, wozu ich schon in der Peter-Pauls-Festung Vorbereitungen getroffen hatte. Ich erwähne dieses Schwere hier nur deshalb, weil es mir die Möglichkeit gab, die Persönlichkeit Dostojewskis näher kennen zu lernen. Seine angenehme und liebevolle Unterhaltung heilte mich, erlöste mich von der Verzweiflung und erweckte wieder Hoffnung in mir. (. . .)

 Dostojewski-Denkmal in Tobolsk    ©  Thanx   Wladimir Parschukow

Dank einem Zufall erhielten wir ganz unverhofft ein Talglicht, Streichhölzer und heißen Tee, der uns schöner dünkte als Nektar. Dostojewski hatte noch vorzügliche Zigarren, die dem verehrten Iwan Gawrilowitsch bei der Durchsuchung zum Glück entgangen waren. In freundschaftlicher Unterhaltung verbrachten wir den größeren Teil der Nacht. Dostojewskis angenehme, liebe Stimme, die Zartheit und Weichheit seines Empfindens, ja sogar einzelne seiner - ganz weiblichen - kapriziösen Ausbrüche wirkten auf mich beruhigend. Ich sagte mich von jedem äußersten Entschluß los. Dort im Tobolskschen Ostrogg wurde ich von Dostojewski und Durow getrennt. Wir umarmten uns unter Tränen und sahen uns nie wieder.